TOP 1) Aussprache zur Regierungserklärung der Bundeskanzlerin
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren,
ich werde in diesen Tagen in meinem Wahlkreis immer wieder besorgt gefragt: Wie wird es mir ergehen unter Schwarz-Gelb?
(Zurufe von der FDP: Oh!)
Welche Konsequenzen hat die schwarz-gelbe Regierung für meine persönliche Lebenssituation?
(Zuruf von der SPD: Freiheit!)
Welche Perspektiven werde ich in diesen vier Jahren bekommen – oder eben auch nicht? Vor allem: Was blüht meinen Kindern?
Wissen Sie, ich komme aus Halle (Saale). Halle ist eine ostdeutsche Stadt mit einer der höchsten Armutsquoten in diesem Land: 45 Prozent der Familien in meiner Stadt erhalten Transferleistungen. Halle hat Stadtviertel, in denen jedes zweite Kind Sozialgeld bekommt. Das verfügbare Jahresdurchschnittseinkommen liegt in Halle nur knapp über 14 000 Euro. Es ist also völlig klar, dass in meiner Stadt – in vielen anderen Regionen ist es ähnlich – Ihr Koalitionsvertrag und Ihre Politik nur bestehen können, wenn sie aus der Sicht dieser Menschen ganz konkret spürbare Verbesserungen bewirken.
(Beifall bei der LINKEN)
Schaue ich mir Ihren Koalitionsvertrag unter diesem Blickwinkel an, kann ich den Leuten ihre Sorgen nicht nehmen. Die Ministerin und andere Redner der Koalition wie Herr Meinhardt schwärmen schon davon, dass sie Milliarden in Bildung, Wissenschaft und Forschung investieren wollen. Das hört sich gewaltig an, wohl wahr! Aber dort, wo das Geld am dringendsten benötigt wird, bei genau diesen einkommensschwachen Familien, bei ihren Kindern und Jugendlichen, kommt es nicht an. Insofern, Frau Ministerin, besteht zwischen meiner Einschätzung und der Ihren eine gravierende Differenz.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das zentrale Defizit Ihres Koalitionsvertrages schlägt sich mit dramatischen Folgen auch im Bildungsteil nieder. Auch hier koppeln Sie sehenden Auges mittlerweile etwa ein Drittel der Kinder und Jugendlichen von Zukunftsperspektiven ab. Jene, die heute knapp unter der Armutsgrenze oder knapp über der Armutsgrenze leben, erfahren durch diese Politik weiter Ausgrenzung. Seit Jahren ist bekannt, dass in diesem Land die Bildungschancen und damit natürlich auch die Lebensperspektiven extrem von der sozialen Herkunft abhängen. In kaum einem anderen europäischen Land fällt die Prognose für den Fachkräftemangel so dramatisch aus. Man sollte glauben, dass der Koalition völlig klar ist, wo sie ansetzen muss, nämlich an diesen Punkten.
Dazu müssten Sie, wie wir es mit unserem nationalen Bildungspakt vorgeschlagen haben, gemeinsam mit den Ländern und mit den Kommunen bei der Unterfinanzierung des öffentlichen Bildungswesens konsequent gegensteuern.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das beginnt bei Kindertagesstätten, wohl wahr, setzt sich aber fort über Schule und Ausbildung und geht bis zur Hochschule und zur Weiterbildung. An der Basis bröckelt das öffentliche Bildungssystem am meisten, in Quantität und Qualität. Es bietet immer weniger Kindern optimale Startbedingungen. Ich habe vorhin erwähnt, aus welcher Stadt ich komme, und weiß genau, unter welchen Bedingungen viele Kinder dort aufwachsen. Umgekehrt stellen wir fest, dass immer mehr Familien, immer mehr Eltern, die es sich leisten können, mit dem öffentlichen Bildungssystem brechen: Immer mehr Kinder und Jugendliche besuchen Kindertagesstätten und Schulen in freier Trägerschaft oder privater Hand, die Gebühren erheben. Gelöhnt wird auch für private Nachhilfe. Auch private berufsbildende Schulen stehen hoch im Kurs. Tausende, die in diesem Land an öffentlichen Hochschulen studieren, müssen Geld für Studiengebühren aufbringen. Wen wundert es, wenn am Ende private Hochschulen immer mehr bevorzugt werden?
Nun will die Koalition die Ausgaben für Bildung und Forschung bis 2015 auf etwa 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes anheben. Der Bund will seinen Anteil bis 2013 aufgebracht haben, und zwar mit 3 Milliarden Euro zusätzlich im Jahr. Ich sage Ihnen aber eines: Ihre Rechnung stimmt hinten und vorne nicht; denn im Oktober 2008, also vor gut einem Jahr, wollten Bund und Länder 7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes allein für Bildung aufbringen. Damals befand eine Strategiegruppe aus Vertretern von Kanzleramt und Ländern, dass dafür jedes Jahr rund 25 Milliarden Euro ausgegeben werden müssten. Die Mittel für die nun geplanten Ausgaben müssen dann eben auch von den Ländern aufgebracht werden.
Für Sie selbst heißt es: Die Mittel sind eigentlich gebunden, weil Sie den Hochschulpakt, die Exzellenzinitiative und den Pakt für Forschung und Innovation verbindlich im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben. Mit diesen drei Pakten werden die meisten Gelder aber in den Bereich Forschung und nicht in den Bereich Bildung gesteuert.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Jetzt sollen die Länder nachziehen. Na, die Idee ist großartig, kann ich nur sagen. Wir haben jetzt schon Einnahmedefizite durch die Krise. Sie senken die Steuern. Es ist doch völlig logisch, dass sich das in den Landeshaushalten niederschlägt. Das heißt am Ende, dass es so sein wird wie in meinem Land, in dem schon jetzt klar angekündigt wird: Das Geld für die Hochschulen wird gekürzt. – Und wir sind nicht das einzige Land. Die Vorstellung, dass die Länder das Defizit beheben können, ist also natürlich völlig illusorisch.
An dieser Stelle kommt dann auch noch hinzu, dass die Koalition offensichtlich der Auffassung ist, dass der Rest von der Wirtschaft erbracht wird. Das ist ungefähr so wie beim Ausbildungspakt: Appelle, Appelle, Appelle! Wann und wo das am Ende wirklich verbindlich geregelt wird, bleibt Ihr ganz kleines schwarz-gelbes Geheimnis. Das ist nämlich nirgendwo im Koalitionsvertrag verankert oder ausgewiesen.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Mit zwei Ideen schlägt die Koalition nach meinem Dafürhalten neue Nägel in den Sarg des öffentlichen Bildungssystems und will sie Verantwortung an private Investoren abgeben. Statt nun das BAföG elternunabhängig und zuschussbasiert auszubauen, mindestens jedoch an die Lebenshaltungskosten anzupassen und für einen Bezug über das 30. Lebensjahr nach einer ersten Berufsphase zu öffnen, bietet die Koalition Bildungskredite inklusive Schuldenberge für alle an. Für wenige, nämlich für 10 Prozent der Studierenden – davon war ja schon die Rede -, soll es jedoch ein Stipendienprogramm geben. Erst habe ich gedacht: Das klingt ja gar nicht schlecht. – Dann habe ich gehört, wen das betrifft. Das soll nur die Besten der Besten betreffen. Großartig!
(Patrick Meinhardt [FDP]: Leistungsorientiert!)
Wenn wir uns in der Praxis umschauen, dann stellen wir fest, dass genau jene kompakt studieren können, die eben nicht nebenbei jobben müssen und die nicht aus Familien kommen, die sich das nicht leisten können,
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und das, liebe Koalition, sind eben wieder Studierende aus einkommensschwächeren Elternhäusern. Letztlich will die Koalition offensichtlich auch Anreize dafür setzen, dass jeder seine Bildung selbst bezahlt. Sie nennen das jetzt „privates Bildungssparen“.Das ist ein richtig schönes Zauberwort. Ich nenne das „Bildungsriestern“. Den Familien wird eine Sockelsumme als Anschubfinanzierung geboten; Frau Ziegler hat das schon erwähnt.
Auch hier stellt sich aus meiner konkreten Erfahrung in meiner Stadt heraus die Frage: Können sich die Elternhäuser das denn überhaupt leisten? Die meisten in meiner Stadt können sich das nämlich gar nicht leisten, und sie rechnen mittlerweile auch gar nicht mehr damit, dass ihre Kinder studieren können. Sie sind ja beispielsweise als Alleinerziehende, als Hartz-IV-Empfängerin, als Aufstockerin faktisch nicht in der Lage, dieses Geld aufzubringen. Frau Schavan, Sie haben vorhin gesagt, kein Kind solle verloren gehen. Wenn man sich den Koalitionsvertrag anschaut, dann erkennt man: Das ist ein Titel ohne Handlung.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
91 Prozent der Eltern haben sich im Sommer laut Umfrage für ein einheitliches Bildungssystem ausgesprochen. Statt nun eine weitere Bildungsprivatisierung durchzuführen und Ihre schönen föderal-bürokratischen Blüten treiben zu lassen, sollte endlich der Ansatz gepflegt werden, ein integrierendes Bildungssystem aus einem Guss zu erarbeiten und gemeinsam mit den Ländern zu vereinbaren. Dann hätten nämlich endlich auch Kinder aus sogenannten bildungsferneren Familien eine Chance auf gute Abschlüsse. Meine Damen und Herren, ich habe diese beiden Bereiche herausgegriffen, weil sie ganz konkrete Beispiele dafür sind, wie Sie Kinder und Jugendliche aus ärmeren Schichten abkoppeln und von Lebensperspektiven abschneiden. Das ist tätige Elitenpflege einer christlichliberalen Koalition.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Oh Gott!)
Wo es um Bildung geht, darf es nicht Stände geben. Das sagte Konfuzius bereits um 500 vor Christus. Übersetzt in die Moderne heißt das: Bildung ist ein Recht für jedermann oder jede Frau. Wie lange soll es eigentlich noch dauern, bis das Bildungssystem in diesem Land vom Kopf auf die Füße gestellt wird, bis Bildungsangebote in der gesamten Breite nicht mehr vom sozialen Hintergrund abhängig sind? Wie viele Bildungsstreiks müssen denn noch stattfinden? Der nächste Streik fängt am 17. November an. Der Koalitionsvertrag bietet jedenfalls keine Antwort auf die Proteste und die Fragen der Studierenden.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
In einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem Titel „Die Amtszeit Schavans aus der Sicht der Betroffenen“ – ich hätte „Ministerin“ gesagt, aber so stand es in dem Artikel – schrieb der promovierende Sprachwissenschaftler Friedemann Vogel von der Uni Heidelberg: Die Studenten protestieren inzwischen auf der Straße für eine breite, auf die Förderung individueller Urteilsfähigkeit hin orientierte Bildung. Allerdings fehlt in einigen Bundesländern selbst die Möglichkeit, die Erfahrungen der Studierenden durch verfasste Mitbestimmungsrechte einbringen zu können. Es ist höchste Zeit, dass sich die Bildungspolitiker mit der Kritik von Lehrenden und Lernenden sowie den Problemen vor Ort auseinandersetzen, anstatt von hohen Gipfeln und Kongressen zu lamentieren oder sich hinter der Finanzpolitik zu verstecken. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Danke schön.
(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)