TOP 20: Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verpflichtung zur Registrierung aller klinischen Studien und zur Veröffentlichung aller Studienergebnisse einführen (Drucksache 17/893)
——
– Rede zu Protokoll –
Sehr geehrte Damen und Herren,
gestern hat US-Präsident Obama das größte innenpolitische Projekt der Legislaturperiode, eine Gesundheitsreform samt Versicherungspflicht für alle Bürger, auf den Weg gebracht. Das amerikanische Gesundheitssystem ist bekanntermaßen das teuerste der Welt, auch die Arzneimittelkosten liegen an der globalen Spitze. Obama hat mit der Versicherungspflicht einen ersten richtigen Schritt getan, nun folgen die Mühen der Ebene: das Versicherungssystem darf kein Selbstbedienungsladen für die Leistungserbringer und Pharmafirmen werden, sondern muss die bestmögliche Versorgung zu vertretbaren Kosten im Blick haben.
Ein Teil dieser Debatte wird sich um die Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln drehen. Während den USA viele Bewertungsinstrumente fehlen, haben sie Deutschland jedoch eins voraus: eine gesetzliche Pflicht zur Registrierung und Veröffentlichung der Daten aus klinischen Studien. Seit 2008 enthält der Food and Drug Administration Amendment Act FDAAA die Vorschrift, dass alle Registrationsdaten klinischer Studien, aber auch die Ergebnisse der Untersuchungen im Internet zu veröffentlichen sind.
Warum hat sich dieses industriefreundliche Land zu solch einem radikalen Schritt entschlossen? Weil es der Publikationspraxis industriegeführter Pharmaforschung nachweislich an Transparenz mangelt. Dies verwundert nicht, schließlich sind positive Studienergebnisse ein Push-up für Absatz und Börsenkurs, während die Nachricht von Unwirksamkeit oder gar Komplikationen und Nebenwirkungen von Wirkstoffen Milliardenumsätze verhindern können. Auch die Frage, ob ein neues Medikament besser wirkt als ein bereits am Markt befindliches, hat Auswirkungen auf den Umsatz der Pharmakonzerne. Wenn die Kassen das neue Medikament nicht erstatten, dann entsteht unter Umständen gar kein Markt dafür.
Aber nicht nur die so genannten Sponsoren der Studien, also die Industrieunternehmen, haben ein Interesse an positiven Ergebnissen. Auch der wissenschaftlichen Reputation von Forscherinnen und Forschern und von Redaktionen der Journals helfen Erfolge in der Wirkstoffentwicklung eher als deren Risiken und Nebenwirkungen. Es gibt also handfeste Interessenlagen, die den so genannten Publikations-Bias hervorrufen.
Studienergebnisse mit positivem Inhalt werden dreimal so häufig publiziert wie solche mit negativem Inhalt. Viele Studien bleiben nach Abschluss oder Abbruch in der Schublade der Sponsoren, auch wenn sie vorher ordentlich bei den europäischen Behörden registriert worden sind. Verschiedene Untersuchungen haben festgestellt, dass zwischen den angemeldeten Studien und den dann in der Fachliteratur publizierten Ergebnissen häufig eine große Lücke klafft. Eine 2008 erschienene Untersuchung verglich Studienergebnisse, die der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA gemeldet wurden, mit denen, die dann in der Fachliteratur auftauchten. Ergebnis: die Daten der FDA können keinen signifikanten therapeutischen Nutzen der zwölf untersuchten Antidepressiva nachwiesen, lediglich 51 Prozent der Studienergebnisse waren positiv. In der Fachliteratur hingegen wurden Prüfungen mit 94 Prozent positivem Ergebnis dargestellt. Der Rest fiel zumindest für die Augen von Ärztinnen und Ärzten, Patientinnen und Patienten und Krankenversicherungen einfach unter den Tisch.
Der Publikations-Bias ist kein amerikanisches Problem: Gerd Antes, Leiter des renommierten Cochrane-Zentrums in Heidelberg, geht davon aus, dass etwa die Hälfte der in Deutschland angekündigten Studien nie veröffentlicht wird. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen IQWIG, das den Nutzen neuer Medikamente bewerten soll, muss sich zum Teil mit noch schlechterer Datenlage begnügen. So verweigerte der Pharmahersteller Pfizer trotz gegenteiliger Vereinbarung die Einsicht in die Patientendaten zum Antidepressivum Edronax, das bereits seit zwölf Jahren auf dem Markt ist. Lediglich 1600 Datensätze wurden dem Institut zur Verfügung gestellt, die 3000 weiteren seien nicht zur Bewertung des Medikaments geeignet – so die lapidare Aussage des Konzerns gegenüber dem IQWIG. Von den 17 Studien, die zu Edronax durchgeführt worden sind, tauchten nur sieben in wissenschaftlichen Publikationen auf – natürlich die mit positivem Ergebnis.
Wir finden, dass dieser Zustand der Intransparenz und Vertuschung ein Ende haben sollte. Erkenntnisse aus klinischen Studien sind keine „Geschäftsgeheimnisse“ und auch keine Privatsache der Financiers. Zum einen wurden diese Studien fast immer unter Nutzung öffentlicher Infrastrukturen und öffentlicher Grundlagenforschung durchgeführt. Zum anderen haben viele Akteure ein Recht auf diese Ergebnisse: zuerst die Probandinnen und Probanden selbst, die sich der Wissenschaft zur Verfügung stellen. Aber auch die wissenschaftliche Community, deren Diskurs auf Transparenz und Validität gründet. Und nicht zuletzt sind alle Akteure in der Gesundheitsversorgung auf die Daten angewiesen: Patientinnen und Patienten wollen die verschriebenen Therapien überprüfen können, Ärztinnen und Ärzte die wirksamsten Medikamente verschreiben und die Selbstverwaltung des Gesundheitswesens auf effizienten Mitteleinsatz der Versichertenbeiträge und Steuermittel achten.
Wir fordern die Bundesregierung auf, nicht nur auf europäischer Ebene um eine Veröffentlichungspflicht zu ringen, sondern hier in Deutschland mit gutem Beispiel voran zu gehen. In Heidelberg wird, unterstützt durch das Bundesforschungsministerium, seit 2007 das Deutsche Register für Klinische Studien – kurz DRKS – aufgebaut. Obwohl einige namhafte Forschungszeitschriften die Registrierung der Studie in einem zertifizierten Register zur Voraussetzung einer Publikation machen, wächst der Datenbestand auf freiwilliger Basis nur äußerst schleppend. Mit Stand von gestern waren 203 Studien registriert. 1300 klinische Tests werden jedoch nach Aussage der Bundesregierung pro Jahr durchgeführt. Das zeigt: Freiwilligkeit löst das Problem nicht. Wir brauchen eine gesetzliche Pflicht zur Veröffentlichung aller Daten aus klinischen Studien. Das DRKS, offiziell von der WHO anerkannt, bietet für solch ein Vorhaben die passende Infrastruktur. Sie müssen nur den Mut haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, dem renditestärksten Industriezweig Grenzen zu setzen und die Interessen der Öffentlichkeit in den Vordergrund zu rücken. Dass zu den ersten Amtshandlungen des Gesundheitsministers der sanfte Druck zur Absetzung des renommierten IQWIG-Leiters Peter Sawicki gehörte, stimmt mich in dieser Hinsicht zwar pessimistisch. Wir setzen jedoch auf den sanften Druck der öffentlichen Debatte, die in den letzten Monaten immer deutlicher eine Veröffentlichungspflicht für klinische Studien gefordert hat. SPD und Grüne, selbst Herr Spahn von der Union und der Staatsekretär im Gesundheitsministerium Herr Bahr von der FDP zeigten sich einer solchen Regelung gegenüber aufgeschlossen. Dann sollte sie doch auch umzusetzen sein!
Zugleich, das soll hier zum Schluss angemerkt sein, kann die Debatte um Transparenz und Freiheit der medizinischen Forschung mit diesem Vorhaben nicht abgeschlossen werden. Eine Studie hat im Auftrag des deutschen Ärztetages im vergangenen Jahr festgestellt: „Veröffentlichte Arzneimittelstudien erzielen häufig ein für pharmazeutische Unternehmen günstiges Forschungsergebnis, wenn diese Studien vom Herstellerunternehmen finanziert wurden oder sich ein Autor in einem ökonomischen Interessenkonflikt befindet.“
Ergo: es muss um die Ermöglichung von mehr industrieunabhängiger Forschung gehen. Wir brauchen objektives Wissen über den Nutzen und Schaden der immer komplexer werdenden therapeutischen und diagnostischen Möglichkeiten.