Parlamentarisches Profil in „Das Parlament“
Dass sich Politiker gern im Hamsterrad bewegen, beweist Petra Sitte jeden Morgen. Dann schwingt sie sich auf ihr fest geschweißtes Rennrad im Wohnzimmer, kurbelt eine Stunde lang – und kommt nicht vom Fleck. Doch wenn sie vom Sattel steigt, beginnt für Petra Sitte, 49, Sprecherin der Linksfraktion für Forschungs- und Technologiepolitik, Pionierarbeit. Dann kann es ihr gar nicht schnell genug vorangehen.
Das kurze Haar ist nach hinten gegelt, der Auftritt drahtig. Die Bundestagscafeteria neben dem Plenarsaal ist randvoll. „Mein Job ist wahnsinnig spannend“, beginnt sie unter Dampf. „Jeden Tag lerne ich Neues und bin herausgefordert, Prozesse zu durchblicken. Das macht mich neugierig wie ein Kind.“ Wenn Petra Sitte über ihre Sprecherfunktion redet, hört sich das an wie die Schilderung einer Mission.
„Die Partei muss sich der Technologieentwicklung zuwenden, um sie seriös bewerten zu können“, sagt sie. Und räumt im nächsten Atemzug ein: „Bei der Linkspartei liegen die Prioritäten bei der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Wissenschaft und Forschung erscheinen da nachgeordnet. Dabei bergen sie große Potenziale für Substanzerwirtschaftung.“
Sie sagt es nicht so, aber Petra Sitte moderiert Forschungspolitik für ihre Partei nach den Worten Bertolt Brechts: „Dass das weiche Wasser in Bewegung / Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. / Du verstehst, das Harte unterliegt.“ Ihre Stimme ist sanft, im Gespräch legt sie oft beide Daumen aufeinander, kreuzt die Finger. Die randlose Brille liegt auf der schmalen Nase wie angewachsen. Sie sei recht zahlenfixiert und faktenzentriert, sagt sie leise. Und dann rattert sie los.
Stammzellforschung? „Es ist doch überzeugend und reizvoll, die Perspektiven für Heilung zu bedenken.“ Sie hätte auch für den FDP-Antrag gestimmt, beugte sich aber der Fraktion. Grüne Gen-Technik? „Ich bin für eine Einzelfallprüfung, um die Zulässigkeit zu bewerten.“ Die rote Stopp-Fahne hisst sie hingegen, wenn sie Kommerzialisierung wittert und die Generationengerechtigkeit in Gefahr sieht: „Bioethik darf nicht nur nach dem Geldbeutel oder dem Alter der Patienten eingesetzt werden.“
Kollegen nennen Petra Sitte eine Radikaldemokratin. Als Fraktionschefin im sachsen-anhaltischen Landtag ließ sie die Abgeordneten zwischen 1990 und 2004 an einer langen Leine. Wenn sie Politik denkt, denkt sie stets die Perspektive des Anderen mit. Sie selbst führt das, selbst ganz Wissenschaftlerin, halb scherzhaft auf anscheinend üppig in ihr versammelte „Spiegelneuronen“ zurück, aber eigentlich muss man nur ins Jahr 1989 zurückblicken, um zu verstehen, warum Petra Sitte Politik als konstruktiven Kompromiss versteht.
Im Jahr 1981 wurde sie SED-Mitglied, den Fall der Mauer erlebte sie als 2. Sekretär der Kreisleitung der Freien Deutschen Jugend (FDJ) der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg. Davor hatte ihr Weltbild aber schon Kratzer abbekommen. Da war das Verbot der sowjetischen, von Glasnost geprägten Zeitschrift „Sputnik“ Ende 1988 in der DDR: „Das war unerträglich.“ Ein halbes Jahr später das Massaker vom Tian’anmen-Platz in Peking: „Das machte mich fassungslos. Ich konnte das anfangs kaum glauben.“ Sie habe das Gefühl beschlichen, Zeugin einer Mumifizierung zu werden. Ihre Rolle in der DDR, ihre Parteiarbeit, leugnet sie nicht: „Ich zahlte bei der FDJ einen Preis für die Chance auf eine akademische Laufbahn.“ 1989 begann für die promovierte Ökonomin eine neue Phase: „Ich komme aus der Perspektive einer Gestaltungspartei, die zu Recht über den Jordan geschickt wurde. Ich denke mit dem Anspruch, dass für Veränderungen auch Verantwortung übernommen werden muss. Andere sind stärker im Oppositionsdenken verhaftet.“
Seit 2005 sitzt sie im Bundestag, 2009 errang sie in Halle das Direktmandat. Die Cafeteria leert sich, es ist Freitagmittag, die Sitzungswoche neigt sich dem Ende zu. Petra Sitte grüßt ein paar Saaldiener, die sich auf einen Kaffee hineinsetzen. Dann springt sie auf, muss noch den Zug kriegen. Draußen setzt sie sich auf ein Rad. Und fährt los.
von Jan Rübel, erschienen in Das Parlament (c)