Am 16.12.10 wurde im Bundestag der Antrag der Koalitionsfraktionen „60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen – Aussöhnung vollenden“ beraten. In diesem Antrag werden auf unglaubliche und empörende Art und Weise historische Tatsachen ausgeblendet und die Geschichte verdreht.
Lukrezia Jochimsen verdeutlichte in der Debatte die ungeheuerliche Geschichtsklitterung in ihrer Rede, die wir nachfolgend im Volltext dokumentieren. In der prinzipiellen Kritik an diesem Antrag waren sich alle Oppositionsparteien einig. Die gesamte Debatte kann nachgelesen werden im Protokoll der Sitzung vom 16. Dezember 2010 ab Seite 157 (PDF).
Die Rede von Lukrezia Jochimsen vom 16.12.2010:
Eins vorweg: Ich spreche heute hier als Kriegskind. In Ihrem Antrag wird die Generation der Kriegskinder besonders erwähnt als eine Bevölkerungsgruppe, der man bisher zu wenig Zuwendung und wissenschaftliche Aufmerksamkeit gewidmet hat. Außerdem spreche ich hier als jemand, der zu keiner Zeit in der DDR ideologisiert worden ist.
Es ist schon sonderbar, welch unterschiedliche Auffassung von Geschichte man als Zeitzeuge haben kann. Denn so viel Geschichtsklitterung, so viel Ausblendung von historischen Tatsachen und so viel Verdrehung wie in diesem Antrag zur Charta der Heimatvertriebenen kommt aus meiner Sicht selten zusammen.
(Beifall bei der LINKEN – Klaus Brähmig (CDU/CSU): Das ist doch nicht Ihr Ernst! Das kann doch niemals Ihr Ernst sein! Dann müssen Sie den Antrag einmal lesen! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Die ist doch unverbesserlich!)
Jetzt gehen wir das einmal Schritt für Schritt durch. In dem Antrag heißt es:
„Die Deutschen nehmen Vertreibungen auch deshalb mit besonderer Sensibilität wahr, weil sie selbst in ihrer jüngeren Geschichte massiv davon betroffen waren.“ Es findet sich kein Wort darüber, dass die Deutschen die brutalsten Vertreiber waren, und zwar lange bevor sie von Vertreibungen betroffen waren.
(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Das steht alles drin!)
Ausgeblendet werden die Massenvertreibungen ganzer Völkerschaften unter deutscher Herrschaft.
(Klaus Brähmig (CDU/CSU): Das ist nicht Ihr Ernst!)
Verschwiegen wird die Vertreibung und Ermordung der Juden, Roma und Sinti.
(Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Was reden Sie denn da? ? Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sie reden von einem anderen Thema!)
Es wird die Charta von 1950 gefeiert, die, genau wie der Antrag von 2010, die Vorgeschichte der Vertreibung vollständig ausklammert. Da wird folgender Satz dieser Charta gefeiert: „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung.“
(Beifall bei der CDU/CSU)
Verzichten? Verzichten kann man doch nur auf etwas, von dem man glaubt, dass es einem zusteht.
(Beifall bei der LINKEN)
Der Satz war 1950 ein Unding.
(Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Ich habe doch gerade etwas dazu gesagt!)
Ihn 2010 zu feiern, ist eine politische Zumutung.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Zöller CDU/CSU): Sie sind eine Zumutung! – Klaus Brähmig (CDU/CSU): Das geht doch nicht, was Sie hier machen! Das ist doch völlig am Thema vorbei!)
Und rächen? An wem sollten sich Heimatvertriebene 1950 eigentlich rächen können? An den Alliierten vielleicht? Was hier zum Ausdruck kommt und laut Antrag 65 Jahre später immer noch Gültigkeit haben soll, ist aus meiner Sicht moralische Hybris.
(Beifall bei der LINKEN – Klaus Brähmig (CDU/CSU): Das ist nicht Ihr Ernst! – Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Irgendwo müssen Sie aber Ihre ideologische Verbohrtheit herhaben!)
Ralph Giordano hat vor einem Jahr geschrieben:
„Mit dem stets im Brustton großmütigen Verzeihens vorgetragenen Kernsatz macht die ‚Charta‘ Deutschland zum Gläubiger der Geschichte, die einst okkupierten Länder Mittel- und Osteuropas aber zu deren Schuldnern. Darin liegt der eigentliche Skandal der ‚Charta‘.“ Skandal!
Nein, diese Charta ist kein Meilenstein zu Integration und Aussöhnung, wie es im Antrag heißt. Im Gegenteil: Sie verkehrt die Dimensionen von Opfererfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf nicht hinnehmbare Weise.
(Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Das sagen Sie?)
Jawohl, das sage ich.
(Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Das ist ja interessant! Das gibt es doch überhaupt nicht! Seit 1990 redet Ihre Partei Unglaubliches! – Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Dann müssen Sie die SED auch noch aufführen! Dann wäre es richtig!)
Auf nicht hinnehmbare Weise wird in dem Antrag verschwiegen, wer eigentlich diese Charta geschrieben und unterschrieben hat, zum Beispiel, dass zahlreiche Unterzeichner Funktionsträger des NS-Regimes waren, zum Beispiel, dass die frühe Verbandsgeschichte des Bundes der Vertriebenen eng mit den Nazis verbunden war, und zum Beispiel, dass der Bund der Vertriebenen diese Geschichte bis heute nicht aufgearbeitet hat.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der LINKEN: Das ist ein Skandal! – Gegenruf des Abg. Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Unerhört!)
Pure Geschichtsverfälschung betreiben die Autoren des Antrags auch damit, dass sie behaupten, die Vertriebenen und ihre Verbände hätten eine positive Funktion bei der Normalisierung des Verhältnisses zu den östlichen Nachbarländern gehabt.
(Michael Link (Heilbronn) (FDP): Eben! Ganz genau! – Klaus Brähmig (CDU/CSU): Was denn sonst?)
Auch da ist das Gegenteil der Fall. Die Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze war ihr Dogma, und die Entspannungspolitik gegenüber dem Osten konnte nur gegen sie durchgesetzt werden.
(Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Ausgesprochen gefühllose Rede!)
Sie nannten das „Verrat“, und Willy Brandt nannten sie „Verräter“.
Vertreibungen in der Gegenwart, ja, das ist ein Thema, in der Tat.
(Zuruf von der FDP: Sie diffamieren die Opfer der Vertreibung!)
Aber kein Satz zur Lage der Roma und Sinti in Europa! Hat man irgendwann vom Bund der Vertriebenen etwas zu den Abschiebungen der Roma in den Kosovo gehört? Die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth, ein angesehenes CDU-Mitglied, hat diese Abschiebungen heute in Berlin angeprangert. Gerade an diesem Beispiel könnten Sie deutlich machen, wie wichtig Ihnen die Lehren aus der Geschichte wirklich sind.
Stattdessen wollen Sie eine Gedenkmöglichkeit bei der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ einrichten, wahrscheinlich ein Denkmal.
(Klaus Brähmig (CDU/CSU): Gott sei Dank! Das wird höchste Zeit!)
Zu allem Überfluss wollen Sie einen nationalen Gedenktag für die Opfer von Vertreibungen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Sie ist schon die ganze Zeit am Ende!)
Das ist alles falsches, die Geschichte verdrehendes Pathos. Wir sagen dazu Nein.
(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das hätte mich auch gewundert, bei der Rede!)
Ich meine, die Antragsteller spielen ein gefährliches Spiel mit der Geschichte.
(Klaus Brähmig (CDU/CSU): Ihre Rede ist ein Schlag ins Gesicht der Heimatvertriebenen!)
Ich kann nur hoffen, dass die Mehrheit dieses Hohen Hauses das erkennt und dabei nicht mitmacht.
(Beifall bei der LINKEN)
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Im weiteren Verlauf der Debatte forderte der Abgeordnete Stephan Mayer (CDU/CSU), dass man sich in die Zeit um 1950 zurückversetzen müsse, als 15 Millionen Deutsche am Ende waren, schreckliches Leid erfuhren und vertrieben worden. Dies veranlasste Luc Jochimsen zu folgender Zwischenbemerkung:
Herr Kollege, ich kann mich sehr gut in die Jahre 1950 und folgende versetzen. Ich war damals ein junges Mädchen und nachher eine junge Frau. Ich frage Sie: Ist Ihnen eigentlich bekannt, wie viele Millionen Ausgebombte, wie viele Menschen, die alles Hab und Gut verloren haben, wie viele Schwerverletzte 1950 in Deutschland gelebt haben und dass nicht nur die Vertriebenen das Schuldschicksal dieses schrecklichen Krieges zu tragen hatten, sondern auch Millionen von Menschen im lande selbst?
Es ging mir persönlich nie um eine Aufrechnung. Aber ich verwahre mich dagegen, dass man sagt,
(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Frage!)
eine Gruppe sei die vom Schicksal am schlimmsten betroffene gewesen, und so tut, als hätte 1950 eine Normalgesellschaft von solchen gegeben, die im Gegensatz zu den Heimatvertriebenen kein Leid erfahren hätten.
Ich kann Ihnen sagen: Ich kann mich sehr gut in die Zeit von 1950 versetzen. Ich möchte einmal wissen, ob Sie eine Vorstellung davon haben, wie viele Millionen Erwachsene und Kinder in beiden Teilen Deutschlands 1950 unter diesem Kriegsleid gelitten haben.
Eine Frage zum Schluss: Wenn es den Krieg nicht gegeben hätte, hätte es dann Vertreibungen gegeben? Was ist der Kontext? Was war zuerst: der Krieg oder die Vertreibungen?