Demografie umfasst weit mehr als Altersforschung

 

 

TOP 23)  Forschungsagenda der Bundesregierung für den demografischen Wandel, Drs. 17/8103

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Ich will es noch einmal sagen: Wir sprechen heute über die „Forschungsagenda der Bundesregierung für den demografischen Wandel – Das Alter hat Zukunft“, nicht über alles andere, was noch irgendwo in den Programmen der Bundesregierung steht. Das ist in der Tat ein Megathema, das große Erwartungen weckt. Wenn man aber genau hinschaut, bleibt die Bundesregierung weit hinter diesen Erwartungen zurück, weil entscheidende Entwicklungen keine Berücksichtigung gefunden haben. Da kann ich Herrn Röspel nur zustimmen.

Dabei hätte die Bundesregierung  –  dass sie es nicht getan hat, wundert mich schon –  eigentlich nur ihren eigenen Demografiebericht umsetzen bzw. übersetzen müssen. Dieser geht nämlich deutlich weiter und beschreibt fünf Entwicklungen.

Ich möchte diese fünf Entwicklungen noch einmal nennen: ein dauerhaft zu niedriges Geburtenniveau, der Anstieg der Lebenserwartung, internationale Zu- und Abwanderung, regionale Unterschiede in der Bevölkerungsentwicklung ? insbesondere im Osten erleben wir einen dramatischen Bevölkerungsrückgang seit 20 Jahren ? und schließlich eine stetig wachsende Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund, die in diesem Land nicht nur Jahrzehnte gearbeitet haben, sondern die hier auch ihren Lebensabend in Würde verbringen wollen. Daran hätten Sie anknüpfen können. Ich will schon sagen: Demografie, also die Bevölkerungswissenschaft, ist weit mehr als Altersforschung. Man gewinnt beim Lesen schon ein anderes Verständnis.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sie jedoch greifen vor dem Hintergrund der steigenden Lebenserwartung allein mögliche Innovationen für das Leben Älterer auf. Wir meinen, dass das viel zu eng gesehen wird, und selbst unter diesem Blickwinkel bleibt die Forschungsagenda zu unkonkret. Wie bei anderen Forschungsstrategien beschreiben Sie nämlich auch hier sozusagen lyrisch nur eine Mission. Konkrete Vorhaben oder Informationen über Mittelverteilung, Projekte und dergleichen sucht man vergebens. Wieder wird einem nicht klar, wohin die vielen Millionen eigentlich fließen.

Das Thema Lebenserwartung, das Sie, Frau Ministerin, vorhin selber angeführt haben, beschränken Sie weitgehend auf Teilhabe im Sinne von Mobilität und Kommunikation älterer Menschen. Damit aber nicht genug: Auch diese Themen werden nochmals verengt und vor allem auf technische Ansätze reduziert. Alles in allem – das muss man schon einmal sagen – umfasst die gesamte Forschungsagenda 415 Millionen Euro. Das hört sich gewaltig an. Von diesen 415 Millionen Euro fließen 360 Millionen Euro nur in den Bereich der Technologieentwicklung.

(René Röspel (SPD): Aber über fünf Jahre!)

? Über fünf Jahre. Da haben Sie recht, Herr Röspel. ? Hightech-Hilfen bei der Fortbewegung, Navigationsgeräte, Assistenzsysteme im Auto, Routenplanungssysteme, Kommunikationstechnologien für die Auslandsreise, Personenerkennung in der eigenen Wohnung und technische Erinnerungshilfen und Überwachungstechnik ? das alles mag ein selbstbestimmtes Leben unterstützen. Das ist überhaupt keine Frage. Aber wenn man in dieser Forschungsagenda tatsächlich davon ausgeht, dass diese Technik alltagstauglich und bezahlbar werden soll, zugeschnitten auf die Interessen und Fähigkeiten der Anwenderinnen und Anwender, dann gehört dazu viel mehr, nämlich auch soziale Voraussetzungen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Immerhin wird sich die Zahl von Menschen mit verschiedenen Formen von Demenz von heute rund 1 Million Menschen auf rund 2 Millionen Menschen im Jahr 2050 erhöhen. Das ist eine gigantische gesellschaftliche Herausforderung. Ihren Themenschwerpunkten ist aber auch zu entnehmen, dass Sie beabsichtigen, wirtschaftlich bedeutende Marktpotenziale zu erschließen. Es ist kein Zufall, dass wir gerade in dieser Woche über dieses Thema debattieren. Es findet nämlich zeitgleich eine große, massiv industriegesponserte Leitkonferenz im Innovationsfeld „Altersgerechte Assistenzsysteme“ statt. So praktisch diese Hilfen sein können, Technologieentwicklung,  ich habe es schon angedeutet, trifft nicht den Kern des Problems. Ältere Menschen sind doch wie alle anderen Menschen auch zuerst soziale Wesen. Daraus bestimmt sich ihr Platz in der Gesellschaft.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Darauf müsste diese Forschungsagenda konsequent ausgerichtet werden. Dann müsste auch die Mittelverteilung innerhalb der Agenda anders erfolgen. Wir brauchen Modelle dafür, wie Ältere in die Gesellschaft integriert werden können, wie wir vermeiden können, dass Ältere wegen ihres Alters diskriminiert werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Linke sagt: Mindestens gleichrangig muss über soziale Innovationen, um den Begriff aufzugreifen, geforscht werden. Diese spielen jedoch ? ich habe es angedeutet ? in der Agenda eine viel zu untergeordnete Rolle. Altersexperten erwarten eine selbstbewusstere, eine gesellschaftlich, kulturell und politisch aktive ältere Generation. Herr Röhlinger hat es uns gerade vorgemacht. Damit wächst die Vielfalt der Ansprüche beispielsweise an lebenslanges Lernen. Herr Röhlinger, da haben Sie recht. Sie haben eine Zielfunktion bestimmt, aber Sie haben nicht berücksichtigt, was im Leben stattfindet. Wort und Tat fallen bei der Bundesregierung auseinander.

(Beifall bei der LINKEN)

2004 gab es Vorschläge einer Expertenkommission, wie die Finanzierung gewährleistet und wie innovative Instrumente in diesen Bereichen entwickelt werden können. Statt diese nun umzusetzen oder mit Inhalten zu füllen, kürzt die Bundesregierung –  Sie wissen es, Herr Röhlinger – seit Jahren, die Mittel zur „Stärkung des Lernens im Lebenslauf“. Allein im Haushalt 2012 werden wieder 40 Millionen Euro gekürzt, und das, obwohl dringender Handlungsbedarf besteht. Wer soll die ganze Technik im Alter denn anwenden, wenn er gar kein Verständnis davon hat? Das Ganze ist ein Fortbildungsprozess. Herr Altmaier durchläuft ihn im Computerbereich.

Meine Damen und Herren, wie soll eine bessere Integration ins Arbeitsleben aussehen, insbesondere wenn man schon viele Jahre im Beruf steht? Unsicherheiten und Umbrüche im Arbeitsleben könnten reduziert werden, wenn es gelingt, in dieser Zeit tatsächlich neue Qualifikationen zu erwerben. Gelingen keine nahtlosen Anschlüsse, dann reduzieren sich die Anzahl der Beitragsjahre bzw. der anrechnungsfähigen Arbeitsjahren und damit die Beitragszahlungen in die Rentenkasse. Daraus ergeben sich nach heutigem Stand der Dinge viel dramatischere Folgen für ein würdevolles Leben im Alter. Grundvoraussetzung dafür ist nämlich eine angemessene Rente. Wie wir wissen, bringt das gegenwärtige Rentensystem Tausende Menschen trotz jahrzehntelanger Arbeit in Altersarmut. Modelle zu entwickeln, wie dem entgegengewirkt werden kann, sollte ebenfalls Gegenstand dieser Forschungsagenda sein.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wie ich angedeutet habe, benötigen wir Forschungen zu weiteren sozialen Innovationen, Stichpunkte: Wie sichern wir Teilhabe an Politik, Kultur, Sport und anderen gesellschaftlichen Feldern? Wie kann Daseinsvorsorge für Ältere, gerade in strukturschwachen Regionen, oder für Menschen mit Behinderungen gesichert werden? Wie können menschenwürdige Pflege und Gesundheitsversorgung für alle gesichert und finanziert werden? Wie schaffen wir es, die Vielfalt in Lebensweisen und Lebensformen auch im Alter zu ermöglichen? Auf all diesen Feldern haben wir gewaltigen Forschungs- und noch mehr Umsetzungsbedarf. Deshalb hoffe ich, dass diese Forschungsagenda eine Erweiterung in Richtung soziale Innovationen findet.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)