Mit ihrer Rede beim Stadtparteitag in Halle umriss Petra Sitte ihr politisches Programm für das Wahljahr 2013
Zahlreiche Mitglieder der LINKEN aus Halle fanden sich am Samstag im Kulturtreff in Halle-Neustadt ein, um am Jahresende gemeinsam Bilanz zu ziehen und inhaltlich erste Weichen zu stellen für ein sicher spannendes Bundestagswahljahr. Auch die Kommunalwahl 2014 wirft langsam ihre Schatten voraus. Hier wird die vollständige Rede von Petra Sitte für Sie dokumentiert:
„Paul Feyerabend schrieb 1979 in seinem Buch „Erkenntnis für freie Menschen“:
„Es ist kurzsichtig anzunehmen, dass man „Lösungen“ für Menschen hat, an deren Leben man nicht teilnimmt und deren Probleme man nicht kennt.“
Ich fühle mich in meinem Ansatz und meiner Art Politik zu machen, in diesem Satz wunderbar aufgehoben. Und ich finde, dass er ebenso für DIE LINKE in Gänze gelten sollte. Nun will ich ja nicht behaupten, dass wir, dass ich für alles Lösungen hätten, aber man kann es ja wenigstens versuchen. Und genug zu tun gibt’s ja wohl auf allen Politikfeldern gleich ob auf Stadtratsebene oder im Bundestag.
Insofern heißt es erst einmal, die richtigen Fragen zu stellen. Und um das zu können, reicht es nicht, die Statistiken richtig auswerten zu können. Vielmehr müssen wir am Leben anderer Menschen teilhaben, um von ihren Problemen zu erfahren. Die LINKE muss sich also an den Konfliktlinien dieser Gesellschaft aufstellen.
Als unlängst in Halle der Landesarmutstag stattfand, fiel den TeilnehmerInnen auf, dass auffällig viele von uns im Saal saßen. Tja, das wird wohl am Thema gelegen haben!
Die soziale Frage ist und bleibt das Kernthema der LINKEN. Aber sie stellt sich extrem facettenreich. Es gibt keine Sphäre der Gesellschaft, in der sie sich nicht stellt. Beim Kampf um gesetzlichen Mindestlohn, um gerechte Renten und deren Angleichung zwischen Ost und West, beim Kampf gegen Hartz IV, Kinder- und Altersarmut liegt es auf der Hand.
Aber ich will Euch zwei Beispiele aufzeigen, in denen sich auch die soziale Frage drängend stellt.
Bei der Frage: Mit welchen Perspektiven und in welcher Qualität profiliert sich das Wissenschaftssystem? stutzt man doch einen Moment. Immerhin handelt es sich bei den Beschäftigten in diesem Bereich doch um die von den Konservativen oft und gern beschworene Elite des Landes. Und doch sind 86 Prozent befristet angestellt. 53 Prozent der Verträge an Hochschulen haben eine Laufzeit von unter einem Jahr. Das durchschnittliche monatliche Einkommen liegt bei 1.100 Euro, wobei auch Zuschüsse von Familienangehörigen und Nebenjobs einfließen.
Stipendien liegen ebenfalls bei nur 1.000 und 1.365 Euro. Dazu kommen je nach Förderprogramm noch so genannte Sachkostenzuschüsse beispielsweise für eine Krankenversicherung. Stipen-diatInnen sind nämlich grundsätzlich nicht unfall-, kranken-, arbeitslosen- und rentenversichert. Das kann dann schon einmal dazu führen, dass Stipendiaten, die keine Verlängerungs- oder neue Finanzierung für ihre Promotion finden, sofort in Hartz IV fallen. Und das alles betrifft deutschlandweit rund 200.000 Leute. Junge Menschen, die ihr Studium überdurchschnittlich gut abgeschlossen haben und großen Teils gern in der Wissenschaft bleiben würden.
Erst unlängst haben wir es in einer konzertierten Aktion mit einer Promovierendeninitiative an der Max-Planck-Gesellschaft, mit der GEW und über Anfragen und Anträge im Bundestag geschafft, dass die Leitung dieser Forschungsorganisation die Stipendienhöhe verbindlich gesteigert hat. Zudem muss nun jeder Institutsdirektor erklären, weshalb er NachwuchswissenschaftlerInnen statt auf einer Stelle mit einem Stipendium beschäftigen will. Über diesen Erfolg haben wir uns gewaltig gefreut. Hier vor Ort an der Uni unterstützen wir natürlich auch die Promovierendeninitiative und die GEW.
Da ich nun aber nicht nur für Forschungspolitik zuständig bin, sondern eben auch für Technologie- und Teile der Netzpolitik, setzen wir uns gleichermaßen auch für gerechte Vergütung von Kreativen und UrheberInnen ein. Auch hier haben wir es mit Qualifizierten und Hochqualifizierten zu tun. Aber diese sind bei weitem nicht alle lohnabhängig beschäftigt. Stattdessen sind Tausende von diesen Freiberufler und Selbständige.
Beispielsweise vollziehen sich ja bei den Printmedien – siehe Frankfurter Rundschau und Financial Times – in den letzten Jahren erhebliche Veränderungen. Ausläufer davon erreichen auch Halle. Die Mitteldeutsche Zeitung digitalisiert einen großen Teil ihres Angebotes. Und Halle-Forum wie Halle-Spektrum sind digitale Konkurrenten.
Da hat sich also die Arbeitswelt gewaltig verändert.
Das wollten und können wir als LINKE nicht ignorieren.
Zu unserem politischen Ansatz gehört im konkreten Fall aber nicht, die UrheberInnen gegen die NutzerInnen oder KonsumentInnen oder neudeutsch ProsumentInnen auszuspielen, indem wir durch unsere Vorschläge beispielsweise noch begünstigen, dass letztere mit tausenden Abmahnungen durch geschäftstüchtige Anwaltskanzleien in Angst und Schrecken versetzt werden.
Wir sehen demzufolge nicht in der Verschärfung des Urheberrechts eine Lösung, weil es schon in Zeiten vor dem Internet ungerechte Vergütungen nicht verhindert hat. Nein, wir wollen die Stellung der UrheberInnen in ihren Verhandlungen mit der Verwertungsindustrie stärken. Auch für die Mehrheit der Kreativen liegt das durchschnittliche Jahreseinkommen bei ca. 11.000 Euro pro Jahr. Ein unhaltbar unsozialer Zustand, wie wir finden.
Also haben wir mal was ganz Neues ausprobiert. Und ich sag es gleich, es hat prima geklappt. Wir haben einen neuen Gesetzentwurf zum Urhebervertragsrecht öffentlich insbesondere im Internet zur Diskussion gestellt und in einem so genannten Open Innovation Verfahren sehr viele hilfreiche Änderungsvorschläge und -wünsche erhalten. Diese haben wir auch eingearbeitet. Insgesamt werden so die Rechte der UrheberInnen in Verhandlungen um gerechtere Vergütungen gestärkt.
Nun soll das Gesetz in den Bundestag eingebracht werden. Nutzen würde dieses Gesetz auch Kreativen, die in Halle leben.
Ihr seht also, liebe GenossInnen, die soziale Frage stellt sich viel breiter, als man manchmal erwartet. Und diese Beispiele haben auch für Halle eine beachtliche Relevanz.
Wir schmücken uns mit dem Titel Kulturhauptstadt. Und in der Tat haben wir eine lebendige Kunst- und Kulturszene.
Wir sind, was die meisten HallenserInnen gar nicht registriert haben, ein wichtiger Multimediastandort mit einer erstaunlich kreativen Szene.
Wir haben die Universität und verschiedene Hochschulen mit sehr vielen WissenschaftlerInnen. Und gerade dort spielen sich derzeit heftige Diskussionen um weitere Mittel- und Stellenkürzungen ab.
Unzählige KünstlerInnen leben hier, die für eine überaus lebendige Ausstellungslandschaft sorgen.
Im Weinbergcampus starten viele klein- und mittelständische innovative Unternehmen, die harte Kämpfe aushalten müssen um am Markt bestehen zu können. Erst in der letzten Woche konnte ich mich wieder auf zwei Veranstaltungen von Wandlungen und damit verbundenen Problemen überzeugen. Da veranstaltete der Weinbergcampus in Berlin eine Vortragsreihe zu Unternehmen der roten und weißen Biotechnologie aus Sachsen-Anhalt, insbesondere aus Halle.
Und der Verband innovativer Unternehmen demonstrierte Entwicklungen seiner Mitglieder. Ganz abgesehen davon, dass viele ihren Sitz im Osten haben, gehören auch Unternehmen aus Halle dazu.
Kreativität und Wissen werden ganz maßgeblich Halles Zukunft prägen. Und das wollen wir auch. Aber wir wollen auch, dass parallel für alle Menschen sowohl in diesen Bereichen als auch in der Stadt verlässliche und gerechte soziale Perspektiven entstehen.
In diesem Borgen liegt auch politische Verantwortung für die LINKE. Extrem spannende Entwicklungen laufen gerade. Von denen sollten wir nicht nur wissen. Da sollten wir dabei sein und mitmischen. Ich versuche das jedenfalls.
Jede Zeit und jeder Ort, so auch Halle, leben in einer emotionalen Grundstimmung. Lebensformen, Lebensstile, Arbeitsformen, bürgerschaftliches Engagements sind in Halle höchst vielfältig. Der Alltag in Halle hat sehr viele Gesichter. Und schnell können positive Ansätze von negativen überschattet werden.
Ich stelle mir vor, dass es gelingt, zusammenzuführen, immer mehr Menschen zu gewinnen, Grenzen, die ihnen verfehlte Politik setzt, zu überwinden. Das, liebe GenossInnen, spielt sich nicht auf einer Metaebene ab. Das ist sehr konkret.
Und wieder will ich das an zwei Beispielen belegen.
Ich habe in meinem „vergessenen Stadtviertel“ – diese Bezeichnung ist nicht von mir – erlebt, wie schnell sich Lebens- bzw. Wohngefühl ändern kann. Plötzlich wohnten wir in einer Freiraumgalerie, die benachbarte leer stehende Häuser, Leichen übersteigerter Gewinnerwartungen, lebendig werden ließ. Noch heute kommen BesucherInnen und fotografieren, was die jungen KünstlerInnen da hingezaubert haben. Nun bringt das noch keinen Euro mehr ins Familienbudget, aber es hat den Alltag wortwörtlich ein wenig bunter gemacht. Die Grundstimmung im Viertel hatte sich geändert.
Ich weiß, das ist jetzt nicht der Schuss aus der Kanone der Aurora zur Weltveränderung! Na und! Leben ist immer konkret. Und im Schnitt haben wir für ein erfülltes Leben 80 Jahre Zeit. Deshalb sollten wir uns also nicht arrogant darüber hinwegsetzen, auch in kleinen Schritten den Alltag vieler Menschen zu verbessern oder zu erleichtern helfen.
Und der Alltag in Halle hat sehr verschiedene Gesichter. Da passt mein zweites Beispiel sehr gut dazu.
Über zwanzig Jahre haben Menschen im Osten versucht, sich nach der Wende ein glückliches Leben zu erhalten oder aufzubauen. Froh, Arbeit gefunden zu haben, konnten Löhne, Verträge und Arbeitsbedingungen auf untere Standards gedrückt werden. Viele Unternehmen sind nicht tarifgebunden. Das wurde hingenommen, weil sich der Verlust eines Arbeitsplatzes zur persönlichen oder familiären Katastrophe ausweiten konnte. Es fehlten ja Beschäftigungsalternativen.
Dass die Finanzkrise hier kaum Spuren hinterlassen konnte, liegt daran, dass wir hier irgendwie schon seit gut zwanzig Jahren hart an Krisenwinden segeln. Und für viele konnte sich die Entlohnung kaum noch verschlechtern. Dann hätten sie lohnfrei arbeiten müssen.
Halle ist, unbekannterweise, auch Hauptstadt der Callcenter. Ein schwieriges Kapitel wie wir wissen, insbesondere aus der Aufstockerstatistik dieser Stadt. In diesem Bereich waren die schwarzen Schafe über Jahre in der Mehrheit. Es häuften sich Berichte über extrem schlechte Bezahlung und Arbeitsbedingungen. Zähe stellten sich erste Verbesserungen ein. Aber die Mindestlohnhöhe bei 8,50 Euro ist nach wie vor die Ausnahme. Und irgendwann reichts dann eben auch mal. Und das ist in Halle geschehen.
Ihr wisst wovon ich spreche. Ich meine den Streik der S-Direkt-Beschäftigten. Ein Callcenter, dass bundesweiter Dienstleister für Sparkassen ist. Sparkassen hatten Jahre zuvor diese Dienstleistung outgesourct, um sie extrem billig wieder zurückzukaufen. Nun sind Sparkassen öffentlich-rechtliche Anstalten. Und Sparkassen wollten unter den Banken ja immer die Guten sein…also ist diese Praxis besonders kritisch zu bewerten.
In deren Aufsichtsgremien sitzen auch VertreterInnen aus Politik und Gewerkschaften. Dieser Umstand hat den Beschäftigten von S-Direkt aber nun gar keine Verbesserung eingebracht. Ihre Geschäftsleitung war ja nicht weisungsgebunden. Also wollte sie die Forderungen für einen Haustarifvertrag drücken. Doch der Bogen war überspannt. 250 von rund 800 Beschäftigten wollten das nicht mehr widerstandslos hinnehmen. Und so kam es zum zweitlängsten Streik in der Geschichte der Bundesrepublik. Ausgerechnet aus einem Callcenter heraus.
Welchen Bewusstseinswandel und welche Selbststärkung Menschen durchlaufen können, habe ich dann hautnah erleben können. Das Unternehmen hat seinen Sitz keine zwei Kilometer von meiner Wohnung entfernt. 117 Tage durchzuhalten, erfordert auch verdammt viel Kreativität. Mahnwachen gab es. Man fuhr durch die halbe Republik, um an den Standorten der Auftraggeber die Gesichter zu zeigen, die sich hinter der schlecht bezahlten Stimme am Telefon verbargen. Ich hab in heißen Sommertagen in kurzer Hose mit den KollegInnen auf Marktplätzen gestanden oder mir auch einen abgefroren, als die ersten kalten Tage Anfang November kamen. An vielen Orten haben wir organisiert, dass auch Mitglieder der LINKEN sich zu den KollegInnen gesellten, um sie zu unterstützen. Unsere Mitglieder in den Aufsichtsgremien der Sparkassen haben die Streikforderungen dort thematisiert. Aufsichtsratsmitglieder wurden angerufen. Im Bundestag wurde das Problem thematisiert. Kurzum…verdi, DIE LINKE der Stadt, des Landes namentlich im Landtag, schließlich auch auf Bundesebene hat gemeinsam mit manchen SPD-VertreterInnen, die alte Oberbürgermeisterin mal ausdrücklich ausgenommen, versucht, den politischen Druck um den Streik immer weiter zu erhöhen. Bis der Imageschaden für die Sparkassen unübersehbar wurde. Dann endlich kam der Abschluss.
Über die ganze Zeit hat mich tief beeindruckt, wie die KollegInnen zusammengehalten haben. Entweder wir gehen mit einem Tarifvertrag wieder hoch ins Unternehmen, hieß es, oder wir gehen nicht. Eine wirklich kämpferische Grundstimmung!
Liebe GenossInnen, daraus können auch wir Kraft schöpfen. Es geht etwas, wenn man will. Jetzt haben wir natürlich schon nächste Ziele vor Augen. Erstens sollen auch andere Callcenter bessere Tarifverträge aushandeln und zweitens sind 8,50 Euro natürlich immer noch zu wenig.
Wir werden weiter aktiv daran mitwirken, dass >Gerechtigkeit< ihr Schattendasein aufgibt.
Vor gut vierzehn Tagen habe ich den Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz bekommen; betitelt mit „Die, die im Schatten leben“ berichten Menschen von ihren Armutserfahrungen. Menschen aus Halle hätten wohl auch sehr viel zu berichten.
In der Stadt drohen einzelne Stadtbezirke Armutsviertel zu werden. Das beschäftigt mich sehr. Deshalb habe ich vorhin davon gesprochen, dass wir versuchen müssen, solche politisch verursachten Grenzen aufzulösen.
Im Kinderarmutsbericht der Stadt Halle steht völlig richtig: „Kinderarmut ist auch immer die Armut der Eltern.“ In Halle gibt es aktuell rund 20.800 Bedarfsgemeinschaften, in denen 35.800 Menschen leben. Darunter sind 9.200 Kinder. Zwar ist der Anteil betroffener Kinder von 45,5 Prozent im Jahre 2008 auf 38 Prozent 2011 gesunken, aber das ist immer noch erschreckend hoch.
Soziale Ausgrenzung, Gesundheits- und Entwicklungsdefizite, materielle Armut, Bildungs- und kulturelle Armut bilden ein unseliges Geflecht. Die Schule und diverse Qualifikationsangebote werden nicht erfolgreich abgeschlossen. Solche Dinge wie Schwimmen, Radfahren oder eben auch ganz normale soziale Verhaltensnormen werden nicht ausreichend gelernt. Erlebnisse wie Familienurlaube, Zoobesuche, gemeinsames Essen bzw. gesunde Ernährung oder Sport finden nicht statt. 35 Prozent der Kinder weisen bei den Schuleingangsuntersuchungen Sprachstörungen auf. Und das nicht etwa, weil sie aus Familien mit Migrationshintergrund kommen. Mir haben Grundschullehrerinnen gesagt: Unser Problem sind nicht die Kinder aus diesen, sondern aus deutschen Familien!
Der Anteil der Kinder in Bedarfsgemeinschaften ist insbesondere in drei Stadtteilen hoch und zudem gewachsen.
In der Silberhöhe liegt er bei fast 70 Prozent und ist um 14 Prozent gestiegen.
In der Südstadt liegt der Anteil bei fast 57 Prozent und ist seit 2009 um 15 Prozent gewachsen.
Und in Heide-Nord liegt der Anteil von Kindern in Bedarfsgemeinschaften bei ca. 55 Prozent und hat sich seit 2009 um 18 Prozent erhöht.
Zum Vergleich: Im Paulusviertel ist der Anteil gesunken und liegt 2011 13,5 Prozent, in Kröllwitz bei 5,3 Prozent und in Heide-Süd bei 1,3 Prozent. Halle Neustadt liegt übrigens bei rund 59 Prozent.
Ausgaben für die Armutsbekämpfung beziffert der Kinderarmutsbericht für 2011 auf rund 174 Millionen Euro. Damit will ich sagen, dass uns Armut teuer zu stehen kommt. Es ließen sich auch unzählige Aktivitäten für Halle aufzählen, mit denen diese Armutsentwicklung bekämpft wird.
Es bleibt jedoch festzuhalten, dass es sich um Nachsorge für eine verfehlte Gesellschaftspolitik handelt.
Und ich muss noch eine beschämende Entwicklung aufzeigen. Wir werden mehr und mehr mit Altersarmut konfrontiert. Abgesehen von der Rentenungerechtigkeit gehen immer mehr Menschen jetzt in Rente, die nach der Wende nicht durchgängig beschäftigt waren. Und wenn sie beschäftigt waren hatten sie oftmals geringe Einkommen. Das bleibt natürlich nicht ohne Wirkung auf die Höhe der Rente. Diese Armut wird sich verstecken, wird weniger sichtbar sein, weil sich Menschen ihrer schämen. Diese Armut wird sich auch räumlich konzentrieren. Und da wir derzeit eine Einkommensentwicklung beobachten, bei der die Beschäftigten der mittleren Einkommens-verlusten drastisch abnehmen, wird sich auch aus dieser Gruppe heraus Altersarmut entwickeln.
Am Ende stehen ausnahmslos für alle betroffenen Menschen fehlende gesellschaftliche Teilhabe und mangelnde Lebensperspektiven.
Geht diese Entwicklung noch weitere zehn Jahre so weiter, dann werden wir in diesem Land von massenhafter wirklicher Armut über alle Bevölkerungsgruppen hinweg sprechen müssen.
Es kommen also gewaltige Herausforderungen auf die Gesellschaft, auf ein öffentliches Gemeinwesen zu, das mehr und mehr ausgehungert wurde. Jetzt verkündet in Sachsen-Anhalt schon der Finanz- und nicht der Bildungsminister Schulschließungen. Herzlichen Glückwunsch SPD!
Dieser Substanzverlust trifft aber nicht nur Infrastrukturen von Gemeinschaftsgütern im engeren Sinne.
Substanzverlust meint hier massenhaften Verlust an Lebensqualität, meint Grundlagen für gemeinschaftliches Zusammenleben, meint auch soziale Verknüpfungen, derer eine funktionierende Zivilgesellschaft bedarf. Outdoor-Gruppen haben sich, wie ich ja gezeigt habe, längst gebildet.
Und letztlich berührt dieser Substanzverlust auch unser demokratisches Handlungsvermögen, berührt lebendiges Interagieren von NutzerInnen, von Interessierten und schließlich auch exekutive Verantwortung Tragende.
Für uns muss es durch einen Politikwechsel also darum gehen Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit wieder zurück zu gewinnen, um fortdauernd ein würdiges menschliches Zusammenleben in zu ermöglichen.
Die Grundfrage, die wir in den öffentlichen Auseinandersetzungen immer wieder ganz offensiv und selbstbewusst stellen müssen lautet:
Wer oder was ist in diesem Land eigentlich für wen da?
Wir müssen uns für Forderungen nach besseren KiTa’s, Schulen, Hochschulen, nach einem gerechteren Gesundheitswesen, nach gerechteren Löhnen und Renten, nach besseren Lebensperspektiven, nach bezahlbarer Energie und vieles andere mehr doch nicht rechtfertigen! Erst recht nicht nach der Finanzkrise!
Irgendwie hat sich die Einsicht, dass es verdammt ungerecht zugeht, ja auch durchgefressen in die Köpfe vieler Menschen.
Gesellschaftliche Transformationen, die als Hau-Ruck-Aktionen von Oben nach Unten daherkommen und in Runden von handverlesenen Experten bzw. Lobbyisten finden immer weniger Akzeptanz. Ob sich‘s dabei um so genannte Rettungsschirme, um die Energiewende, um Riesenbauvorhaben oder ein vergleichsweise kleines Golfplatzprojekt auf einem ehemaligen Deponiegelände in Halle handelt, ist eigentlich wurstig.
Ich beobachte durchaus Initiativen auch hier Halle, die ausbrechen wollen aus der Bevormundung von Politik und Verwaltung.
Die Stimmung auf den Stadtteilkonferenzen der letzten zwei Jahre habe ich als immer aufgeheizter erlebt. Verwaltung, namentlich die Oberbürgermeisterin, wurde immer weniger als Dienstleisterin für die EinwohnerInnen dieser Stadt wahrgenommen. Und die gleiche Beziehung kann man im Verhältnis zu Landtagen und zum Bundestag wahrnehmen.
Die Ideen aus der Gemeinschaft werden eher als bedrohlich, als störend und als unrealistisch empfunden.
Letztens hab ich so genannte Killerphrasen gehört, die auch mir immer wieder begegnet sind:
Das passt nicht zu uns!
Das wird nie funktionieren!
Das macht keinen Sinn!
Das geht nicht!
Als Forschungs-, Technologie- und Netzpolitikerin habe ich aber auch immer wieder erlebt, wie sehr ich gewinnen kann, wenn ich mich öffne, wenn ich neugierig auf die Ideen anderer bleibe.
Daher plädiere ich nicht nur für andere bzw. für unsere politischen Inhalte, sondern auch für einen anderen Politikstil. Und ich hoffe, ich habe ihn selbst schon nachweisen können. Politikwechsel in jeder Hinsicht.
Daher arbeite ich mich nicht, wie das üblich ist, so sehr an den Fehlern der anderen Parteien ab. Mir kommt es auf unseren Einsatz, auf unsere Inhalte an. Einerseits erfahren die Menschen Fehler der Politik am eigenen Leibe und andererseits können Menschen unsere Vorschläge selbst mit denen anderer Parteien vergleichen. Das müssen wir ihnen nicht vorkauen.
Unsere Ideen können nur gedeihen, wenn wir Menschen dafür begeistern können…ohne Gift und Galle.
Menschen zu bestärken, Hierarchien, Strukturen und Inhalte kurzum Macht in Frage zu stellen, ist auch ein Weg, Teilhabe in Gesellschaftsveränderung münden zu lassen.
Dass soziale Innovationen Kosten verursachen, wollen wir gar nicht leugnen. Wir haben zur Finanzierung längst Vorschläge und ein neues Steuerkonzept vorgelegt. Insofern entstehen diese Kosten vor allem jenen, die bisher unverschämt hohe Gewinne eingefahren und unverschämt hohe Vermögen akkumuliert haben. Schon deshalb müssen wir uns für die Forderung nach mehr Gerechtigkeit nicht rechtfertigen!
Um es mit Adam Smith und Daniel Kehlmann zu sagen:
Der „Wohlstand der Nationen“ bedarf einer neuen „Vermessung der Welt“.
Und da sollten wir als LINKE unsere Gerechtigkeitsvorstellungen als Wertemaßstab in die gesellschaftlichen Debatten des Wahljahres offensiv und selbstbewusst hineintragen. Und ich freu mich drauf!“
Weitere Bilder vom Stadtparteitag finden Sie hier.