In Berlin – und (H)alle dabei [4]

Als Bundestagsabgeordnete kann man sich, wie im restlichen Leben auch, nicht mit allen Themen in gleichem Maße befassen. Die Arbeit in den jeweiligen Ausschüssen und Kommissionen bringt eine thematische Spezialisierung fast zwangsläufig mit sich. So auch bei meinem Fraktionskollegen Matthias W. Birkwald, unserem rentenpolitischen Sprecher. Er ist ganz sicher kein „Fachidiot“ im negativen Sinne, doch wenn es um das Thema Renten geht, kennt sich niemand besser aus als er. Das gilt auch für die spezielle Frage der Zwangsverrentungen, die mir in meinen monatlichen Sprechstunden und auch in zahlreichen Gesprächen unterwegs in Halle in letzter Zeit immer häufiger begegnet. Das bedeutet nicht, dass „Zwangsverrentung“ ein neues Problem wäre: Der entsprechende §12a des Zweiten Sozialgesetzbuches wurde bereits 2008 von der damaligen Großen Koalition verabschiedet. Doch mit dem Auslaufen von Übergangsregelungen sind nun immer mehr ältere Menschen davon betroffen. Genaue Zahlen gibt es leider nicht, da sich die Bundesregierung bisher weigert, eine entsprechende Anweisung an die Arbeitsagenturen zu erlassen. Matthias Birkwald geht jedoch davon aus, dass allein 2014 ca. 65.000 Menschen in Deutschland davon betroffen sein können. Das sind all jene Erwerbslosen, die in diesem Jahr entweder ihren 63. Geburtstag feiern oder als 63-65jährige in diesem Jahr aus dem ALG I herausfallen, d.h. länger als ein Jahr arbeitslos sind.

Denn §12a SGB II besagt im Grunde genau dies: Wer das 63. Lebensjahr erreicht hat und Hartz IV bezieht, muss seine Verrentung beantragen. Tut er dies nicht, wird der Rentenantrag vom Amt gestellt – eine Zwangsverrentung eben. Was das für die Betroffenen bedeutet, hat Matthias Birkwald folgendermaßen zusammengefasst: „Zwangsverrentungen bedeuten für die betroffenen Personen massiv und dauerhaft abgesenkte Renten, weil für jeden Monat ein Abschlag von der Rente in Höhe von 0,3 Prozentpunkten veranschlagt wird. Ein/e sog. EckrentnerIn (West) muss dauerhaft eine Rentenkürzung von 8,1 %, d.h. gut 100 Euro pro Monat verkraften – es verbliebe eine Nettorente von 1100 Euro -, wenn er/sie mit 63 Jahren aus dem SGB II Leistungsbezug in die vorgezogene Altersrente wechseln müsste. Am schlimmsten trifft es diejenigen, die durch die Abschläge dauerhaft auf Fürsorge angewiesen sind. Sie müssen bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Sozialhilfe beantragen – eine Fürsorgeleistung, die bis heute auf die Einkommen und Vermögen von Kindern und Eltern zurückgreift!“

Das ist schon skandalös genug, reicht der Regierung aber offenbar noch nicht. Wie ist es anders zu bewerten, dass die monatlichen Abschläge bei Frühverrentung bis 2027 Schritt für Schritt noch weiter steigen werden? Wer das Pech hat, erst dann die Altersgrenze erreicht zu haben, muss mit Abschlägen bis 14,4 % rechnen; bei einem Rentenanspruch von 900 Euro verliert man da etwa 130 Euro – weil einen das Amt per Zwang in die Rente befördert.

Und die Begründung der Regierung für diese Regelung? Die Rente sei eben eine „vorrangige Leistung“, Hartz IV eine nachrangige. Was sich liest wie ein Naturgesetz, ist selbstverständlich keines, sondern Ausdruck des Regierungswillens. Es wäre der Regierung ein Leichtes, diese Regel zu modifizieren. Dann aber würden die älteren Erwerbslosen nicht einfach aus der Statistik verschwinden, denn die Zwangsverrentung trägt ihr Scherflein zum „Jobwunder“ Deutschland bei – auf dem Rücken aller Betroffenen, die ihren früheren Renteneintritt teuer bezahlen.

Am 09. Mai haben wir als Bundestagsfraktion den Antrag gestellt, diese unsoziale Praxis sofort abzuschaffen. Aktuell wird der Antrag in den Ausschüssen für Arbeit und Soziales sowie im Rechtsausschuss beraten; die Redner_innen der Regierungskoalition haben in ihren Beiträgen aber schon deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie unseren Antrag ablehnen werden.

Für alle Betroffenen bleibt zu hoffen, dass die Regierung auch in diesem Fall ihr ganz eigenes Verständnis von politischer Zusammenarbeit zelebriert: Nicht zum ersten Mal könnten sie einen unserer Anträge einfach kopieren, nachdem sie das Original abgelehnt haben. Zu befürchten ist allerdings, dass CDU/CSU und SPD Zwangsverrentungen nicht als Fehler erkennen, sondern als Teil ihrer im Wortsinne asozialen Politik. Den Standpunkt der LINKEN dagegen brachte wiederum Matthias Birkwald in der Jungen Welt auf den Punkt: „Hartz IV ist und bleibt Armut per Gesetz. Zwangsverrentungen sind und bleiben Altersarmut per Gesetz. Deshalb müssen sie sofort und bedingungslos abgeschafft werden.“

Bis sich diese Meinung endlich durchgesetzt hat, sei den Betroffenen vor allem eines empfohlen: Widerspruch gegen die Zwangsmaßnahme einlegen und gleichzeitig beim Sozialgericht die aufschiebende Wirkung für den Widerspruch beantragen. Denn je länger sich das Verfahren verzögert, desto geringer sind später die Abschläge.

Weitere Hilfen und Informationen finden sich z.B. unter www.linksfraktion.de/zwangsverrentung