Sitzung des Deutschen Bundestages, 3. Juli 2014
Erklärung nach § 31 GO-BT zu Tagesordnungspunkt 33k
(Dritte Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013 – Bundestagsdrucksache 18/1810)
Ich stimme der Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses zu, die aus den Anlagen ersichtlichen Beschlussempfehlungen zu den Wahleinsprüchen anzunehmen und damit alle betroffenen Wahleinsprüche zurückzuweisen. Ich stimme dem hier im Plenum zu, habe mich im Wahlprüfungsausschuss als Vertreterin der Fraktion DIE LINKE. jedoch bei den Abstimmungen über die Zurückweisung derjenigen Wahleinsprüche, die sich allein gegen die Fünfprozent- Sperrklausel bei der Bundestagswahl richten, enthalten.
Mein Abstimmungsverhalten begründe ich wie folgt:
Die Fünf-Prozent-Sperrklausel bei der Bundestagswahl begegnet meines Erachtens nicht nur verfassungspolitischen, sondern auch verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen in der Bundesrepublik nicht haltbar. Wie das Bundesverfassungsgericht über die Fünfprozent-Sperrklausel zukünftig entscheidet, können wir nicht genau wissen. Es hat zwar zuletzt in der Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit der Dreiprozent-Hürde bei der Europawahl an seiner ständigen Rechtsprechung zu den Sperrklauseln festgehalten. Aber es hatte die Frage der Sperrklausel für die Bundestagswahl gar nicht zu entscheiden.
Die Auffassung des Wahlprüfungsausschusses, dass die Fünfprozent-Sperrklausel bei der Bundestagswahl verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, teile ich nicht. Um dies zu verdeutlichen, habe ich mich dort enthalten.
Aus meiner Sicht ist es ohnehin schon gar nicht erforderlich, Parteien von der Sitzverteilung im Bundestag auszuschließen, um dessen Aufgabenerfüllung, also die Fähigkeit zur Regierungsbildung und seine Funktionsfähigkeit als Gesetzgeber zu sichern. Demokratie setzt doch das Aufeinandertreffen verschiedener Positionen und das Finden von Kompromissen gerade voraus. Warum dies allein deshalb nicht möglich sein soll, wenn sogenannte Splitterparteien einziehen, ist schon theoretisch nicht für mich nachvollziehbar. Aber auch rein tatsächlich sind von der Sperrklausel aufgrund deren Höhe ja auch Parteien mit beachtlicher Größe (4,8 und 4,7 Prozent der Zweitstimmen bei der Bundestagswahl 2013) betroffen. Würde der Einzug solcher Parteien eine Funktionsunfähigkeit des Parlaments bewirken? Der Akt der Wahl ist der wichtigste Integrationsvorgang in der Demokratie. Dies ist aus meiner Sicht gefährdet, wenn über 15 Prozent der Stimmen der Wahlbevölkerung sich nicht im Parlament wiederfinden. Das lässt an der Verhältnismäßigkeit der Sperrklausel zweifeln. Es ist sind mittlerweile Zweitstimmen in einer Größenordnung betroffen, die einen ganz erheblichen Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien bedeuten. Und dass dies das Bundesverfassungsgericht nicht in die Abwägung einstellt, halte ich nicht für sehr wahrscheinlich. Damit abzuwägen ist die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments, die angeblich durch die Sperrklausel erfolgt.
Die Sperrklausel führt dazu, dass gewichtige Anliegen der Bevölkerung von der Volksvertretung ausgeschlossen werden. Das schadet der Demokratie. Zu bedenken ist auch der (allerdings vom Gesetzgeber bisher erwünschte) Effekt, dass Wählerinnen und Wähler den kleinen und vor allem neuen Parteien ihre Stimme deshalb nicht geben, weil sie um deren Überwindung der Fünf-Prozent-Klausel fürchten (müssen). Das erschwert insbesondere neuen Parteien den Einzug in den Bundestag. Eine gewisse Hürde in den Bundestag zu kommen, liegt doch ohnehin schließlich in der „natürlichen“ Sperrklausel die darin liegt, dass die jeweils notwendige Anzahl von Stimmen für einen Bundestagssitz zu erringen ist. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass es sich bei der Sperrklausel auch um eine Gesetzgebung in eigener Sache handelt; das Bundesverfassungsgericht berücksichtigt auch diesen Umstand. Die aufgezählten Gründe sprechen dagegen, dass die Sperrklausel verfassungsrechtlich wirklich unbedenklich ist, wie es vom Wahlprüfungsausschuss dargestellt wird.
Im Ergebnis ist es aber dennoch vertretbar, wenn der Bundestag die Wahleinsprüche zurückweist, da die einfachgesetzlichen Wahlvorschriften ordnungsgemäß und nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch verfassungsgemäß angewendet worden sind.
Damit wird im Ergebnis die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Sperrklausel im geltenden Wahlrecht – wie in ständiger Praxis im Rahmen der Wahlprüfung üblich -dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. Für die Änderung der Rechtslage ist der Bundestag in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber, nicht im Rahmen der Wahlprüfung gefragt.
Festzuhalten ist: Jenseits der Wahlprüfung kann der Bundestag als Gesetzgeber seine Verantwortung für verfassungskonforme Gesetze nicht zurückweisen. Der Bundestag muss daher – wie es die Fraktion DIE LINKE. zuletzt in der 17.Wahlperiode (Bundestagsdrucksache 17/5896) mit vielen überzeugenden historischen, systematischen und demokratietheoretischen Gründen gefordert hat – die Sperrklausel im Wahlrecht abschaffen. Das stärkt die Demokratie.
Dr. Petra Sitte