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Von Petra Sitte, Erste Parlamentarische Geschäftsführerin
Zur Halbzeit eines Lebensabschnitts, ob bei der Ausbildung, bei einer Kur oder im Studium, wird oft ein Bergfest gefeiert. Auch die Große Koalition sollte jetzt das Bergfest feiern, denn von einer Bewegung bergauf ist für die zweite Halbzeit dieser Regierung nicht auszugehen. Auf der Habenseite der ersten kann sie immerhin den Mindestlohn – zu spät und löchrig –, ein Frauenquötchen für die Elite der Aufsichtsräte und Verbesserungen für einige Beschäftigtengruppen bei der Rente verbuchen. Die SPD hat damit offenbar ihr Pulver verschossen. Die Union hingegen strebt politische Gestaltungsbereitschaft über europarechtswidrige Projekte wie die Autobahn-Maut und die Vorratsdatenspeicherung hinaus kaum an.
Wer heute einen Blick in den Koalitionsvertrag von 2013 wirft, findet dort nicht mehr viel Umsetzbares. Kanzleramtsminister Altmaier stellt fest, man habe den Vertrag weitgehend abgearbeitet. Wir entgegnen: Die Koalition hat sich eindeutig zu wenig vorgenommen. Wer glaubt, dass eine Mehrheit von 80 Prozent der Parlamentssitze besonders engagiert und in großer Einigkeit die Probleme des Landes anginge, der sieht sich eines Besseren belehrt. Demokratie lebt eben auch vom Streit, von der Reibung und vom Wettbewerb um bessere Ideen.
Gerade dieser Ideenwettbewerb hat es nicht leicht in den Zeiten der Großen Koalition – ebenso wird eine effektive Kontrolle der Bundesregierung verhindert. Offenbar wähnt man sich kraft einer Mehrheit von 80 Prozent der Parlamentssitze auf einer Insel und kümmert sich wenig um das Drumherum. Anfragen der Opposition werden mit nichtssagenden Nullantworten versehen. Oder es werden plötzlich Daten als geheim eingestuft, die in der letzten Legislaturperiode noch als öffentlich galten.
Union und SPD starteten mit einem monatelangen Gezerre um die Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten der Opposition in die Legislaturperiode. Unsere Fraktion muss vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, um ihrerseits die Möglichkeit auf Normenkontrolle, also auf Prüfung auf Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen wahrnehmen zu können. Und Gesetze am Rande der Rechtmäßigkeit produziert diese Koalition genug – man denke nur an das Tarifeinheitsgesetz, an die Benachteiligungen für ostdeutsche Frauen bei der Mütterrente, an die „Ausländer-Maut“ oder an die Ausnahmen im Mindestlohngesetz.
Mit dem Blick eines Inselbewohners, der den tosenden Sturm des Meeres beobachtet, laviert sich diese Koalition durch die Legislaturperiode. Sie lässt sich ungern beeinflussen von Kritik der Opposition, vom Regelwerk der Europäischen Union oder von Verfassungsbedenken. Wie auf einer Insel fühlen sich auch viele Bürgerinnen und Bürger angesichts der verheerenden internationalen Lage, die sie jeden Abend in den Nachrichten sehen – und die Kanzlerin tut alles, um diese Menschen in diesem Glauben zu lassen. Dabei leben wir nicht auf nur auf der Sonnenseite. Die veraltete Infrastruktur – Straßen, Gleise, Schulen, Breitbandinternet? Der Personalmangel in Bildung, Gesundheit und Pflege? Alters- und Kinderarmmut in einem reichen Land? Die Spitzelei der Geheimdienste – unbeeindruckt von Verfassung und Gesetzen?
All diese Probleme sollen offenbar begleitet von warmen Worten der Kanzlerin ausgesessen werden – wie auch die internationalen Herausforderungen einer echten Lösungsperspektive harren: die Krise in Griechenland, aber auch in Spanien und Italien, die die Legitimation und damit den Einsatz Europas herausfordern? Die Probleme mit Korruption, Armut, Verfolgung auf dem Balkan, die so viele Menschen in die Flucht treiben? Die auch vom Westen mit verursachten Bürgerkriege in Syrien oder im Irak? Hunger, Armut und Terror in Afrika? Die Bedrohung der Kurden, denen man eben noch Waffen für den Kampf gegen den IS lieferte?
Die Koalition versucht, die Brandung der Probleme inselgleich von den Deutschen fernzuhalten. Das klappt aber immer weniger. Vielmehr ist die aggressive Stimmung im Land – ob gegen Griechenland oder gegen Flüchtlinge – ein Zeichen dafür, dass das Einbrechen internationaler Krisen in den Alltag zunehmend viele aufschreckt. Insbesondere die Union hat über Jahrzehnte die Illusion genährt, man könne soziale Fragen durch Abschotten und Abschrecken beantworten.
Aber die Zeit des Aussitzens ist vorbei. Möglicherweise 800.000 Geflüchtete allein nach Deutschland in diesem Jahr fordern politische Antworten – für ein Willkommen und eine menschenwürdige Behandlung hierzulande und einen forcierten internationalen Kampf gegen Armut, Hunger und Krieg. Der grassierende Fremdenhass und die Gewalt gegen Flüchtlinge brauchen einen scharfen Gegenwind der Bundesregierung statt der Zündelei, die die CSU jeden Tag in den Medien betreibt. Es gab nur wenige Momente der Konfrontation mit der Realität – etwa als Angela Merkel ein afghanisches Flüchtlingsmädchen in einer Fernsehsendung traf, dem die Abschiebung drohte. Sie war hilflos.
Um Probleme mutig anzugehen, muss endlich eine solidarische Zukunft gestaltet werden, von der alle hier Lebenden etwas haben. Dazu gehört eine funktionierende öffentliche Infrastruktur, Daseinsvorsorge, Digitalisierung, ein neu und inklusiv zu begründender Sozialstaat, die Energiewende und nicht zuletzt Bildung und Wissenschaft. Für diese Herkulesaufgabe braucht das Gemeinwesen eine sichere und vor allem gerechte Einnahmebasis, die ohne eine steuerliche Umverteilung von Reichtum und Vermögen nicht zu haben ist. Es gibt viel zu tun, aber es steht zu befürchten, dass diese Koalition die Zeit bis zur Wahl lieber unter je nach Gusto schwarzen oder roten Sonnenschirmen verbringt. Wir arbeiten weiter an Alternativen, die einen Politikwechsel für 2017 für eine Mehrheit im Lande und im Parlament aufwachsen lassen.