Organspende – Die Einführung der Widerspruchslösung allein reicht nicht!

67. Sitzung des Deutschen Bundestages

TOP 1: Vereinbarte Debatte zur Organspende

 Wir wollen unter diesem Tagesordnungspunkt im Rahmen einer Orientierungsdebatte das Thema Organspende erörtern. Heute soll das Für und Wider möglicher Neuregelungen offen, über Fraktionsgrenzen hinweg diskutiert werden. Es liegen zum jetzigen Zeitpunkt noch keine konkreten Gesetzentwürfe vor. Diese sollen erst auf der Grundlage dieser Orientierungsdebatte erarbeitet werden. Um möglichst vielen Abgeordneten die Möglichkeit zu geben, sich an der Debatte zu beteiligen, ist interfraktionell vereinbart, dass insgesamt 38 Abgeordnete aller Fraktionen für jeweils vier Minuten das Wort erhalten. Dafür ist insgesamt eine Redezeit von 152 Minuten vorgesehen. Alle anderen Abgeordneten können ihre Redebeiträge zu Protokoll geben. Sind Sie damit einverstanden? – Dann ist das so beschlossen, und wir verfahren so. Die Absprache beinhaltet, dass der sitzungsleitende Präsident auf die Einhaltung dieser vier Minuten Redezeit streng achten wird. Wir haben im Übrigen auch vereinbart: Wir lassen keine Zwischenfragen und keine Kurzinterventionen zu; sonst würde das Ganze ins Gegenteil verkehrt.

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Ich habe für meinen Beitrag ausdrücklich die Perspektive der Betroffenen übernommen, also beispielsweise eben jener 11 000 Menschen, die aktuell auf eine Organspende warten, um zu überleben oder auch ihr Leben zu verlängern. Ich denke auch daran, dass jeden Tag in diesem Land drei Menschen sterben, weil es für sie kein Spenderorgan gab. Man ahnt durchaus, wie entmutigend das auf Erkrankte wirken muss, aber auch für uns ist es eher ernüchternd und bedrückend. Für den Rückgang der Zahl der Organspenden gibt es, wie schon angeführt, viele Gründe, sie sind sehr komplex, und es gibt keine linearen Wirkungen zwischen ihnen. Daher bin ich zu der Auffassung gekommen, dass wir möglichst alle Faktoren, die einen Anstieg der Zahl von Spenderorganen versprechen könnten, verbessern sollten.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich möchte mich in meinem Beitrag mit einer Kritik an der Widerspruchslösung auseinandersetzen, nämlich dem Vorwurf, sie würde in Selbstbestimmungs- und Persönlichkeitsrechte von Spendern und Spenderinnen eingegriffen. Vergleichen wir doch einmal die Situation derer, die auf ein Organ warten, mit der Situation jener, die ihnen helfen könnten. In wenigen Fällen geht es um Lebendspenden; aber diese Spender stehen heute auch nicht im Fokus, sondern jene Menschen, die erst nach ihrem Ableben helfen könnten. Die Wartenden führen ein Leben, das eingeschränkt und weniger selbstbestimmt verläuft. Setzen wir jetzt diese Einschränkung ins Verhältnis zu dem Erfordernis, einer Organspende widersprechen zu müssen, dann, meine ich, ist es durchaus verantwortbar. Dieser Umstand schränkt doch beispielsweise mein oder Ihr Leben, Ihre Lebensführung, meine Selbstbestimmung und unsere Persönlichkeitsrechte real in keiner Weise ein.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

So, wie man mit Blick auf den Organspendeausweis aktiv werden muss, so muss man eben auch aktiv werden im Zusammenhang mit der Widerspruchslösung. Viele haben das ja getan, und sie haben es zum Teil auch in Gesprächen mit ihren Familien getan. Wenn 84 Prozent der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger die Organspende positiv bewerten, dann, meine ich, ist es doch berechtigt, mit der Widerspruchslösung an dieser Mehrheit anzuknüpfen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Ja, es stimmt, es ist eine Güterabwägung; da haben die Kollegen völlig recht. Aber ist es wirklich grundrechtlich eine bedenkliche Zumutung, diesen Widerspruch zu Lebzeiten kundtun zu müssen? Haben wir als Gesetzgeber nicht die Rechte einer Minderheit von Erkrankten, die uns gegenüber zunächst erst mal schlechtergestellt sind, vor allem zu schützen? Da sehe ich durchaus eine Schutzaufgabe des Staates für Leib und Leben von Menschen. Um es überspitzt zu sagen: Da sehe ich eher eine Zumutung für die Wartenden, die auf unsere Einsicht angewiesen sind oder dieser ausgeliefert sind. Bei einer Entscheidungslösung sind die Chancen für sie eben geringer, wie wir festgestellt haben. (Stephan Pilsinger

[CDU/CSU]: Stimmt nicht!)

Eingedenk dessen halte ich eine Widerspruchsregelung für keine Bevormundung. Sollte es doch jemand so sehen – nach Bewertung der Beiträge scheint es ja so –, frage ich, ob diese nicht zumutbar und auch verhältnismäßig ist. Was ist denn das für eine Freiheit, die sich nur auf sich selbst bezieht?

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU und der SPD)

Es geht nicht um die singuläre Einführung der Widerspruchslösung; das reicht nicht.

(Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: Selbstbestimmung!)

Leben weiterzugeben braucht tätiges Mitgefühl, Aufklärung, Ausfinanzierung des gesamten Systems, Entscheidungstransparenz und Kontrolle. Ich danke Ihnen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der SPD)