192. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 19. November 2020 Tagesordnungspunkt 9: a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bundesbericht Forschung und Innovation 2020 Drucksache 19/19310
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Forschung, Innovation und technische Neuerung prägen immer mehr unser Leben. Sie verändern Arbeitsplätze, Arbeitsabläufe wie auch unsere Möglichkeiten, mit der Welt in Kontakt zu treten und umgekehrt. Daher ist uns Linken Forschungspolitik auch so wichtig. Wir wollen Forschung im Interesse der Menschen gestalten, statt das Leben durch Technik steuern zu lassen. Die Berichte, die wir heute diskutieren, folgen jedoch weitgehend einer technikfixierten und exportorientierten Sicht auf Forschung. Schaut man nämlich in die Berichte, dann findet man so schicke Schlagworte wie „Anteil am Weltmarkt“, „Patente pro Kopf“, „Ausgaben, anteilig am Inlandsprodukt“. Meine Damen und Herren, das verstehen wir nicht unter Forschungspolitik.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir fragen vielmehr: Wenn wir schon öffentliche Gelder ausgeben, was fließt von diesen öffentlichen Geldern an die Gesellschaft zurück, an die Menschen und an das Gemeinwesen? Das müssen wir uns doch gerade im Zuge der Coronapandemie fragen: Soll denn im Grundsatz wirklich alles so weitergehen wie bisher, so wie es Herr Sattelberger gerade beschrieben hat? Epochale Ziele wie Bewältigung des Klimawandels, Biodiversität, Ressourcenschutz, Verteilungsgerechtigkeit, soziale und demokratische Teilhabe, nachhaltige Wirtschaftsformen und Lebensstile, Mobilitätskonzepte, Gesundheitsforschung, Digitalisierung – es ließe sich beliebig fortsetzen –, all das sind Felder, die unser Leben heute und in Zukunft existenziell bestimmen. Und der Bericht der Bundesregierung? Der atmet den Geist der 50er-Jahre: exportieren, konkurrieren. Was dabei entwickelt und verkauft wird, ist relativ unwichtig. Es bleibt bei Ihrer Wachstumsphilosophie der letzten Jahrzehnte. Das ist auch durchaus im Sinne der Global Player. Aber für die sind wir ja eben nur ein Standort, und das ist uns zu wenig.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Es sind doch oft genug gerade die kleineren Unternehmen, die viel innovativer sind: kommunale Unternehmen, Sozialunternehmen oder die Social Entrepreneurs. Sie sind eben einfach näher dran an den Bedürfnissen von Menschen oder beispielsweise auch an den Bedürfnissen von kommunalen Verwaltungen.
Gerade als ostdeutsche Abgeordnete muss ich noch mal sagen: Ich erlebe immer wieder, wie wichtig und wie innovativ kleine und mittelständische Unternehmen im Osten wirken und arbeiten. Deshalb vertrete ich auch seit Jahren die Position, dass genau die beispielsweise aus dem Innovationsprogramm Mittelstand viel stärker und viel verlässlicher gefördert werden sollten, statt mit der Gießkanne über Steuern letztlich doch bloß die Großen zu begünstigen.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Nah dran sind natürlich mit ihrer Alltagskompetenz und ihrem Alltagswissen die Menschen selbst. Sie müssen viel mehr direkte Mitsprache bei der Forschungsstrategie bekommen. Die bisherigen Bemühungen der Bundesregierung sind eher enttäuschend. Auch Gruppen und Organisationen, die hier wertvollen Input geben könnten, werden nicht wirklich ernsthaft eingebunden oder eben viel zu wenig. Sie sind fast immer eine verschwindende Minderheit in Beratungsgremien. Wenn Sie es also wirklich ernst meinen mit Forschungspolitik, die am Gemeinwohl orientiert ist, dann beteiligen Sie doch endlich diese Unternehmen, diese Verbände gleichberechtigt neben Wirtschaftsverbänden oder auch freie Forschungsverbünde, die Sie mit ihrem Wissen beraten könnten. Ich habe das Gefühl: Was Sie derzeit betreiben, ist so eine Art Particitainment. So verlieren sie eben auch Unterstützung in der Gesellschaft. Erst unlängst haben wir hier den Bericht der EnqueteKommission „Künstliche Intelligenz“ beraten. Auch da wurde die Gesellschaft während der Erarbeitung des Berichtes nicht beteiligt, sondern erst, als die Ergebnisse da waren. Die Koalitionsfraktionen haben diese Beteiligung verhindert. Dabei wäre doch gerade diese Perspektive so wichtig gewesen. Was ermöglichen denn neue Technologien wie künstliche Intelligenz an Anwendungen und Praktiken, die uns als Gemeinwesen wirklich weiterbringen? Da neue Impulse zu suchen und aufzunehmen, das verstehe ich unter erfolgreicher Forschungspolitik.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Anna Christmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Bei alldem können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber auch hervorragende Erklärer ihrer eigenen Forschung sein. Sie können hervorragend Dialoge führen. Sie können auch helfen, die Akzeptanz zu erhöhen. Die Coronakrise hat uns doch gerade gezeigt, wie extrem wichtig es ist, dass Wissenschaft und Gesellschaft an einem Strang ziehen und gemeinsam Fakten prüfen, Fakten diskutieren und dann Maßnahmen anregen. Am Montag dieser Woche – das werden sicher viele gesehen haben – lief im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ein Film über die größte Polarexpedition aller Zeiten. Auch da erklärten uns Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, was sie tun, und vor allem, warum sie es tun. Ich fand das großartig, weil dort coram publico das Angebot gemacht wurde, mit dem Bundestag, mit der Gesellschaft über die Fragen des Klimawandels zu reden.
Dabei brauchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber auch selber aktive Unterstützung. Ich frage mich, ehrlich gesagt, immer wieder: Was um Himmels willen bringt die Bundesregierung und ihre Beratungsgremien bloß auf die Idee, dass verlässliche und den Leistungen entsprechende Karrierechancen Wissenschaft, Forschung und Kreativität behindern könnten? Da hangelt man sich von befristetem Vertrag zu befristetem Vertrag. Deutschland liegt weit hinter anderen Industrieländern, was den Anteil dauerhafter Beschäftigung im Wissenschaftsbereich betrifft. Davon sind nicht nur die Hochschulen betroffen, sondern zunehmend auch außeruniversitäre Forschungseinrichtungen. Ich sage mal: Kein Wirtschaftsunternehmen dieser Welt würde eine solche Personalpolitik betreiben.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir sollten stattdessen alles tun, um Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zu unterstützen. Wir sollten uns hier immer wieder fragen: Was braucht die Gesellschaft? Was brauchen die Menschen? Was brauchen vor allem jene, die zu den am meisten Benachteiligten in dieser Gesellschaft gehören? Jede Entscheidung, die wir hier treffen und die deren Situation weiter verschlechtert, ist eine inakzeptable Entscheidung. Deshalb sind soziale Innovationen so wichtig.
(Beifall bei der LINKEN)
Schließlich wünsche ich mir, dass die Ministerin nicht nur den Horizont der Forschungsbemühungen des Ministeriums erweitert, sondern eben auch den Kreis der Beteiligten. Zukunft ist zu spannend, als sie Ihnen überlassen zu können. Wir sollten alle daran beteiligt werden, hier im Bundestag genauso wie in der Gesellschaft.
(Beifall bei der LINKEN)