Offener Brief zum „Heidelberger Appell“

MdB Dr. Petra Sitte                                                                                     MdB Dr. Lukrezia Jochimsen

 

Institut für Textkritik
Herrn Prof. Dr. Roland Reuß
Ezanvillestr. 38
69118 Heidelberg
15.05.2009


 

Offener Brief: Zum Heidelberger Appell

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Reuß,

vielen Dank für die Übersendung des von Ihnen initiierten „Heidelberger Appells“, den wir mit großem Interesse zur Kenntnis genommen haben. Wir verstehen diesen Appell als politisches Statement in der Debatte um die weitere Ausgestaltung des Urheberrechts, um die Publikationspraxis in Hochschulen und Forschungsinstituten sowie um den Umgang mit
kreativem Schaffen generell.

Sie fordern in Ihrem Schreiben völlig zu Recht einen Einsatz der Politik für die Interessen der kreativ Tätigen in Kultur und Wissenschaft. Die Fraktion DIE LINKE hat sowohl deren Arbeitsbedingungen und Entlohnung wie auch die Freiheit von Wissenschaft und Kunst zu Kernthemen entwickelt. Die einzelnen Aktivitäten in diesen beiden Bereichen sind umfangreich dokumentiert und im Internet nachlesbar.

Auch in der Frage des Schutzes von Urheber- und Leistungsschutzrechten aus geistiger Produktion steht für uns die soziale Absicherung der kreativ Tätigen im Mittelpunkt unserer Politik. Diese geht einer individuellen kreativen Leistung voraus und muss mit den außerordentlichen Möglichkeiten und Chancen digitaler Wissens- und Kulturverbreitung in Einklang gebracht werden. Auf der von unserer Fraktion veranstalteten Konferenz „Wem gehört Wissen?“ am 15.5.2009 sowie auf einem in der Planung befindlichen Fachgespräch zur Kreativwirtschaft im Juni wollen wir der Lösung dieses Problem näher kommen.

In Ihrem Schreiben machen Sie zwei Akteure aus, die das Urheberrecht wesentlich bedrohen: Google und die Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen. Die Firma Google, Marktführer im Bereich werbefinanzierter Suchmaschinen und Onlinedienste, scannt gedruckte Bücher und stellt diese online zur Verfügung. Dabei wird zwischen noch  erhältlichen sowie vergriffenen, nicht mehr in gedruckter Form erwerbbaren Büchern unterschieden. Wie die UnterzeichnerInnen des „Heidelberger Appells“ sehen auch wir es als großes Problem an, dass eine kommerzielle Firma, anfangs ohne eine entsprechende Vergütung für die Urheber, ohne Bitte um Erlaubnis und ohne ein vertragliches Begleitinstrumentarium, die Werke zur Generierung von Werbeeinahmen nutzt. Der juristische Vergleich zur Entschädigung der Urheber kam erst unter dem Druck des amerikanischen Autorenverbandes und der Verlage vor einem lokalen Gericht zu Stande und soll globale Wirkung entfalten. Dies zeigt, dass die globale Verbreitung der Kommunikationsstruktur Internet bisher nicht angemessen demokratisch und rechtlich eingerahmt worden ist.

Wir begrüßen daher, dass die VG Wort mit Google um eine angemessene Beteiligung der deutschen Urheber an den erzielten Erlösen verhandelt. Wir weisen jedoch darauf hin, dass die Autorinnen und Autoren für vergriffene und nicht mehr verlegte Werke keinen Cent von ihren Verlagen bekommen hätten. Nun haben sie immerhin die Möglichkeit, weitere Einnahmen zu generieren.

Das Internet bietet Chancen, neue Geschäftsmodelle im Sinne der Nutzer wie auch der Kreativen zu entwickeln. Dies zeigen auch Beispiele von Verlagen. Zudem sehen viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler trotz aller Probleme die Google-Initiative im Sinne einer schnelleren Wissensverbreitung auch positiv, wie die Stellungnahme des Aktionsbündnisses „Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft“ zeigt. Während Verlage aus ökonomischen Gründen ein Buch nicht mehr auflegen, kann dieses über das Internet dann doch fast kostenfrei publiziert werden – ein Vorteil für Leser wie für Autoren. Die aggressive Strategie von Google zur Aneignung von Inhalten bewerten wir dennoch kritisch, auch  wenn wir das Ziel, den Zugang zu älteren, nicht geschützten Buchbeständen zu eröffnen,  für sinnvoll erachten. Die Sicherung kulturellen Erbes verstehen wir als öffentliche Aufgabe.

Unserer Auffassung nach liegt die Verantwortung dafür in der Hand des öffentlichen Bibliotheks- und Archivwesens, welches für dieses kostenträchtige, aber unzweifelhaft gemeinnützige Projekt entsprechend ausgestattet werden muss. Die Digitalisierungsprojekte der europäischen Bibliothek „Europeana“ sowie das Projekt der Deutschen Digitalen Bibliothek geben ein gutes Beispiel für Möglichkeiten digitaler Reproduktion. Allerdings stoßen auch diese Vorhaben nach Aussagen Beteiligter an die Grenzen des derzeitigen  Urheberrechts. So sind für viele Werke die Rechteinhaber nicht mehr auffindbar und müssen recherchiert werden. In einigen Fällen haben sich Dritte die Rechte angeeignet, obgleich sie nichts mit den ursprünglichen Rechteinhaber gemein haben. Hierin zeigen sich Probleme, die aus einer spezifisch europäischen Variante des Urheberindividualrechts entstehen, welches zugleich auch als Verwerterrecht ausgestaltet ist.

Wir teilen Ihre Auffassung, dass Rechtsverletzungen nicht hinnehmbar sind. Mithin muss aber die bestehende Rechtslage auch den neuen Herausforderungen und  Rahmenbedingungen angepasst werden. In diesem Zusammenhang kritisieren wir die auf EU-Ebene diskutierte Ausweitung der Leistungsschutzrechte im Musikbereich von 50 auf 95 Jahre. Solche Maßnahmen, die schon aus biologischen Gründen den Verwertern und nicht den Kreativen zugute kommen, verhindern einen kreativen und gemeinnützigen Umgang mit dem kulturellen Erbe.

Uns verwundert, dass der „Heidelberger Appell“ die Interessen von Urhebern und  Verwertern deckungsgleich sieht. Die Erfahrungen von kreativ Tätigen mit Total-buyout-Verträgen, mit hohen Druckkostenzuschüssen der Kreativen an Verlage und nicht zuletzt mit heftigen Auseinandersetzungen um das Urhebervertragsrecht widersprechen dieser pauschalen Annahme. Wir sehen Sinn und Zweck der Verwerter in einer  Dienstleistungsfunktion gegenüber Kreativen und gegenüber Nutzern. Prinzipiell ist nur diese Leistung durch die Nutzer zu honorieren, nicht jedoch ein Extraprofit auf Grund von  Monopolrechten.

Wenn nun in Folge technologischen Fortschritts Funktionen dieser Dienstleister durch Nutzer und Kreative übernommen werden könnten, dann ergeben sich direktere Kommunikationswege zwischen beiden Gruppen. Aus unserer Sicht sollte dieser Fortschritt unter Beachtung des Schutzes und der Absicherung der Urheber politisch und rechtlich neu gestaltet werden.

Zudem müsste dieser technologisch vorangetriebene Strukturwandel in Wissenschaft sowie
Wissens- und Kulturwirtschaft sozial und kulturell begleitet werden. Der Schutz von Kreativen, sozial wie individualrechtlich, ist uns dabei ein ebenso wichtiges Anliegen wie die Stärkung kleiner und mittlerer Unternehmen in der Wissens- und Kulturwirtschaft. Wir sehen einen grundlegenden Unterschied zwischen der Initiative von Google Book Search und der Open Access Bewegung in der Wissenschaft. Zunächst sind zwischen Wissenschaft und Kulturproduktion wichtige Unterschiede feststellbar. Neues Wissen beruht in starkem Maße auf Geschaffenem früherer Generationen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind daher auf den freien Zugang zu diesem Wissen angewiesen, wollen sie es wiederum  anreichern – zum Nutzen der Gemeinschaft und nachfolgender Generationen. Hinter dieses
Ziel tritt die Wissenschaftlerin bzw. der Wissenschaftler zurück, weil ihre Leistung ohne Ressourcen, bereitgestellt von eben jener Gemeinschaft, nicht möglich gewesen wäre.

Natürlich ist der notwendige Rückgriff auf bestehende Wissensbestände je nach Disziplin unterschiedlich ausgeprägt – ein besonderer Spezialfall sind die von Ihnen erwähnten Editionen.

Open Access ist, anders als Google Book Search, als Eigeninitiative aus der Wissenschaft heraus entstanden. Viele Hochschulen und Forschungseinrichtungen wollten und konnten die exorbitant gestiegenen Preise für wissenschaftliche Journale nicht mehr zahlen. Stattdessen nutzten sie das Medium des Internets zur Veröffentlichung. Es ist nicht nachvollziehbar, warum Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diesen Weg nicht wählen sollten. Haben sie doch bislang sowohl kostenlos für diese Journale geschrieben und begutachtet, zum Teil waren sie sogar gezwungen, die Publikationen zu bezuschussen. Sie beanspruchen nunmehr verständlicherweise alternativ preiswertere und einfacher zugängliche Methoden der Wissensverbreitung. Von den Verlagen angegebene Gewinnmargen zwischen 25 und 30 %  für wissenschaftliche Journale sind jedenfalls nach öffentlicher Finanzierung der Kreativen nicht zu rechtfertigen. Wenn die kommerzielle Ausbeutung von Inhalten bei Google kritisiert wird, sollte dies mit Bezug auf die großen Wissenschaftsverlage ebenfalls zur Sprache kommen.

Wissenschaft ist auf freien Zugang angewiesen, nicht auf Knappheit. Sie argumentieren richtig, dass Open-Access-Veröffentlichungen auch Geld auf Seiten der Wissenschaftseinrichtungen kosten. Allerdings müssen die Bibliotheken dann nicht doppelt – zuerst für die Gehälter der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, und dann noch einmal für den Erwerb der von diesen hergestellten Publikationen – zahlen.

Zu bedenken ist auch, dass – anders als etwa Autoren belletristischer Literatur – die  Kreativen in der Wissenschaft durch die öffentliche Hand finanziert werden. Zugleich werden ihnen große Freiheiten bei der intrinsisch motivierten Suche nach Forschungsfeldern und Fragestellungen gewährt. Diese geschieht in der Annahme, dass Zweckfreiheit wissenschaftlicher Grundlagenforschung langfristig der Gemeinschaft mehr nutzt, denn natürlich ist einerseits wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn Ziel öffentlicher Finanzierung.

Andererseits ist Forschungsfreiheit Mittel und Weg der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Wir betrachten es daher als angemessen, wenn sich wissenschaftliche Institutionen und Hochschulen neuer Medien bedienen, um einen bestmöglichen Zugang zu ihren wissenschaftlichen Ergebnissen zu gestatten. Dies schränkt aus unserer Sicht weder  die Freiheit der Forschung, noch die Persönlichkeitsrechte der Forschenden ein.

Dass der „Heidelberger Appell“ eine breite Aufmerksamkeit in den Medien erfährt, belegen Aktualität und Brisanz des Themas, das unsere Fraktion seit langem mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. So werden wir auch in Zukunft angemessene Arbeitsbedingungen und Einkommen kreativ Tätiger in das Zentrum unserer Initiativen rücken. Vor diesem Hintergrund kann die Freiheit der Wissenschaft gegenüber Drittmittelgebern und vor  privater wie staatlicher Einflussnahme geschützt werden.

Mit freundlichen Grüßen

gez.                                                                  gez.
Dr. Petra Sitte                                             Dr. Lukrezia Jochimsen