Wissenschaft, Forschung und Lehre neu organisieren

23. Sitzung des Deutschen Budestages

Zur Bildungs- und Forschungspolitik der neuen Großen Koalition gibt Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) heute  eine Regierungserklärung ab, an die sich eine Aussprache anschließt.

_____________________________________________________________________________

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Irgendwann ist mir beim Lesen der Koalitionsvereinbarung der folgende Satz von Albert Einstein eingefallen: „Eine neue Art von Denken ist notwendig, wenn die Menschheit weiterleben will.“ Nicht zuletzt hat gestern auch die Kanzlerin von epochalen und systemischen Umwälzungen gesprochen. Allerdings so wenig wie ihre politische Ausrichtung insgesamt ein neues Lösungsverständnis und neue Strategien verspricht, so wenig wurde erkannt, dass sich auch ihre Wissenschafts- und Forschungspolitik ändern muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Vor fast einem Jahr fand in allen Teilen der Welt der March for Science statt. Es war eine internationale Demonstration für Forschung und Wissenschaft, gegen alternative Fakten und gegen die Etablierung einer postfaktischen Ära. Ja, die beschleunigte Weltveränderung und Machtverschiebung sehen viele nicht als Fortschritt an. Tatsächlich werden Globalisierung und neue Technologien von vielen als Bedrohung wahrgenommen. Es findet eine grandiose Umverteilung von Macht und Lebenschancen statt. Wer daran nicht teilhaben kann, wird sich bedroht fühlen. Auch das Vertrauen in die Wissenschaft geht dabei verloren; das muss uns beschäftigen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Gewonnenes Wissen wird in Abrede gestellt. Eine Beschränkung der Freiheit von Forschung und Lehre ist – ja, Frau Ministerin, darin stimme ich Ihnen zu – wieder denkbar geworden. Dagegen müssen wir etwas tun.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir müssen uns kritisch fragen: Ist die Art, wie wir Wissenschaft, Forschung und Lehre organisieren, tatsächlich noch zeitgemäß? Ist das noch tauglich? Dass sich Forschende und Lehrende gegenseitig treiben und inspirieren, gehört zum Wesen von Wissenschaft. Dass wir aber einen Großteil des Systems ökonomisiert strukturiert haben, gehört nicht zum Wesen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es nimmt Zeit, erstens für wissenschaftsgeleitete Entscheidungen und zweitens für ihre stärkere Öffnung in die Gesellschaft.

In der Koalitionsvereinbarung sehe ich dafür allerdings kaum Ansätze. Da werden thematisch gebundene Fördervorhaben aufgezählt. Das ist so wie Wissenschaftsproduktion mit Patchwork-Charakter vor allem zur ökonomischen Verwertung. Lernen, Lehren, Forschen muss aber ein offener Prozess sein, früher Austausch jenseits von disziplinären Schubladen mit anderen aus der Wissenschaftscommunity wie eben auch aus der Gesellschaft erfordert eine strukturelle Öffnung des Systems, erfordert auch Hierarchieabbau.

(Beifall bei der LINKEN)

Grundsätzlich muss das gesamte System endlich wieder ausfinanziert werden. Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler bekommen Vollzeitverträge und werden nur auf Teilzeit bezahlt. Das ist sozial nicht akzeptabel.

(Beifall bei der LINKEN)

Unterschiede bei der Förderung zum Nachteil von Wissenschaftlerinnen führen zu Qualitätsverlusten, führen auch zu Forschungslücken, und das ist wissenschaftlich inakzeptabel.

(Beifall bei der LINKEN)

Schließlich sollte Open Science stärker gefördert werden, weil auch damit wissenschaftliche Ausbildung und wissenschaftliche Praxis qualifiziert werden.

Ich komme zum Schluss. Was ist das Wissen von morgen? Wir wissen es nicht genau. Es gibt keine Gewissheiten. Wir brauchen einen Diskussions-, Lern- und Aushandlungsprozess in der Gesellschaft, um neue Perspektiven und eben auch neue Verlässlichkeiten zu gewinnen. Das muss der Kern von Wissenschafts- und Forschungspolitik sein.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)